Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 11

zm112, Nr. 11, 1.6.2022, (1098) ENTWICKLUNG DER ZAHNMEDIZINISCHEN SPEZIALDISZIPLINEN AM BEISPIEL DER WESTDEUTSCHEN KIEFERKLINIK Von den „Trümmergesichtern“ zum Fachzahnarzt Julia Nebe, Matthis Krischel Der Erste Weltkrieg förderte bis dahin unbekannte Verletzungsmuster zutage. Zurück blieb eine Vielzahl von Patienten mit spezifischem Behandlungsbedarf. Als Konsequenz entwickelten sich in der Folgezeit einige medizinische Spezialdisziplinen: etwa die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, die versuchte, den vielen Gesichtsversehrten – manchmal auch auf experimentelle Weise – ihr menschliches Antlitz wiederzugeben. Der österreichische Publizist Karl Kraus (1874–1936) schrieb 1916 folgenden Satz in seiner satirischen Zeitschrift „Die Fakel“ nieder: „Ja, das Gesicht dieser Welt wird eine Prothese sein!“ [Fackel, 1916:120]. Und er sollte Recht behalten. Die erschreckende Bilanz des Krieges lautete: Abermillionen Opfer, die unter der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ [Ilken, 2018; Eckhart/ Gradmann, 2003] entweder ihr Leben verloren hatten oder als psychisch Zerrüttete und physisch Versehrte ein Leben lang unter den Folgen eines erbarmungslosen Krieges zu leiden hatten. Die große gesellschaftliche und vor allem medizinische Herausforderung der Nachkriegszeit bestand darin, die ein- oder mehrfach Amputierten, die Kriegsblinden und Gesichtsversehrten, die Gelähmten oder die sogenannten „Kriegszitterer“ einer entsprechenden sozialpolitischen und medizinischen Versorgung zuzuführen [Eckhart/Gradmann, 2003; Ilken, 2018]. Während und nach dem „Großen Krieg“ kam es zu einer Politisierung und Polarisierung der körperlich Traumatisierten. Vor allem die entstellten Gesichter – oder um es mit den Worten der Zeit zu sagen: die „zerzausten Visagen“ – avancierten bald zum absoluten Negativsymbol eines aus deutscher Sicht schmachvoll verlorenen Krieges. Oder wie es der US-amerikanische Kulturwissenschaftler Daniel McNeill (1947–2017) formulierte: Unser Gesicht verleiht uns eine Identität – eine gesellschaftliche Identität. Diese Identität ist dabei übersituativ konstruiert und entscheidet über unsere soziale Existenz; unser Dasein als Mensch, als Gesellschaft. Die „Trümmergesichter“ [Mohi-von Känel, 2018:118] des Ersten Weltkriegs wirkten als Bild eines in „die Heimat zurückgekehrte[n] Schlachtfelde[s]“ [ebd.]. Aus Scham oder Entsetzen über das eigene Aussehen verbargen sich viele Gesichtsversehrte vor dem Blick der Öffentlichkeit in den zahlreichen Lazaretten für Gesichtsversehrte. Was einem beim Anblick eines im Ersten Weltkrieg Gesichtsversehrten wiederfuhr, versuchte der Journalist Erich Kuttner (1887–1942) im Jahr 1920 bei einem Besuch in einem Berliner Lazarett für Gesichtsversehrte in Worte zu fassen: „[I]ch starre in ein kreisförmiges Loch von der Größe eines Handtellers, das von der Nasenwurzel bis zum Unterkiefer reicht. Das rechte Auge ist zerstört, das linke halb geschlossen. Während ich mit dem Mann rede, sehe ich das ganze Innere seiner Mundhöhle offen vor mir liegen: Kehlkopf, Speiseröhre, Luftröhre, wie bei einem anatomischen Präparat [...]. Aber was ist das für ein seltsam behaarter Fleischklumpen, der lose an ein paar Sehnen und Bändern wie ein Glockenklöppel in dem Hohlraum pendelt? Man erklärt es mir: eine verunglückte Nase [...]“ [Kuttner, 1920]. Nach Angaben des „Sanitätsberichts über das Deutsche Heer (Deutsches Feld- und Besatzungsheer) im Weltkriege 1914/1918“ (1935) erlitten alleine auf deutscher Seite 48.836 Soldaten Kiefer- und Gesichtsverletzungen. Damit handelte es sich also nicht um Einzelfälle [Angerstein, 1932; Ruff, 2015:38]. Aber worauf ging dieses neue Verletzungsbild zurück? Und wie gestaltete sich die medizinische Spezialversorgung? NEUE WAFFEN FÜHRTEN ZU NEUEN VERLETZUNGEN Die Verwendung neuer Waffentechnologien führte zu neuen Verletzungsmustern. Dazu gehörten Maschinengewehre und mit Schrapnell gefüllte Artilleriegranaten. Diese verursachten im „Grabenkrieg“ des Ersten Weltkriegs verheerende Verwundungen JULIA NEBE, M.A. Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf julia.nebe@hhu.de Foto: pirvat 72 | GESELLSCHAFT

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