zm112, Nr. 11, 1.6.2022, (1101) vereins „Westdeutsche Kieferklinik“ [Hugger, 2017:23; Mayer, 1967:19]. Die zukunftsträchtige Aufgabe des Vereins war es, „die Weiterführung des Kieferlazaretts als Stätte der Krankenversorgung zu sichern sowie die Forschung und Lehre auf dem gesamten Gebiet der Zahn-, Mundund Kieferheilkunde und der Kiefer-/ Gesichtschirurgie voranzutreiben und zu vertiefen“ [Hugger, 2017:23]. Zu Recht könnte man sagen, Bruhn war ein Visionär, der mit seinem persönlichen Engagement sich nicht nur humanitären Zielen verpflichtet fühlte – indem er den kiefer- und gesichtsversehrten Soldaten mit der Etablierung der Westdeutschen Kieferklinik auch nach dem Krieg eine suffiziente zahnmedizinische Versorgung zur Verfügung stellen wollte –, sondern auch fachlichen Weitblick besaß. Schließlich befand sich die Zahnheilkunde derzeit mitten in einem langen und mühevollen Professionalisierungsprozess [Krischel, Nebe, 2022]. Mit der Institutionalisierung des Kieferlazaretts wollte Bruhn diesen Entwicklungen einen entscheidenden Vorschub leisten und für eine Überwindung der unterschiedlichen Ausbildungsstandards bei Zahn- und Humanmedizinern sorgen: „Die natürliche Folge dieses Unterschieds hinsichtlich der wissenschaftlichen Aus- und Durchbildung ist die Kluft, die zwischen dem Zahnarzt und der Allgemeinmedizin, und damit, insofern die Zahnheilkunde als [Spezial-]Gebiet der Medizin zu betrachten ist, zwischen dem Zahnarzte und seinem eigenen Fach besteht. Es findet sowohl in der Stellung des Zahnarztes zur Zahnheilkunde als Wissenschaft, als Forschungs- und Lehrgebiet, wie auch in den äußeren Standesverhältnissen seinen starken Ausdruck“ [Bruhn, 1918:194]. Mit der Angliederung der Westdeutschen Kieferklinik an die Düsseldorfer Akademie für praktische Medizin gelang es in der Folge, die etablierten Strukturen langfristig zu sichern und somit die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie als eigenständige Spezialdisziplin zu etablieren und weiterzuführen [Halling, 2017:47]. Ein wichtiger Schritt, fungierte doch in der Vorzeit allein der Große Krieg als Lehrmeister, so wie im Fall des jüdisch-stämmigen, verfolgten Kieferchirurgen Josef Elkan (1895–1972) [Krischel/Halling, 2020]. Aufgrund Bruhns unermüdlichen Einsatzes war er bereits seit 1920 Ehrendoktor der Universität Würzburg. Gegen den Widerstand des Akademischen Rates folgte 1924 die Ernennung zum ordentlichen Professor der Kiefer- und Zahnheilkunde in Düsseldorf [Halling, 2017:47; Hoffmann-Axthelm, 1995:100]. Zum ersten außerordentlichen Professor der Kiefer- und Gesichtschirurgie, wurde hingegen der bereits zu Zeiten des Kieferlazaretts am Standort Düsseldorf wirkende und zwischenzeitlich doppelapprobierte August Lindemann (1880–1970) ernannt. Jener übernahm 1935, nach der Emeritierung Bruhns, die Leitung der Westdeutschen Kieferklinik und erhielt den Lehrstuhl für Kiefer- und Zahnheilkunde. Mit der politischen Unterstützung durch den nationalsozialistischen Reichsärzte- und den Reichszahnärzteführer gelang es Lindemann, der selbst nicht Parteimitglied war, die Westdeutsche Kieferklinik zu einer zentralen zahnärztlichen Fortbildungsstätte der NS-Zeit zu gestalten. Lindemann leitete noch bis zu seiner Emeritierung 1950 die Westdeutsche Kieferklinik, von 1948 bis 1950 war er zudem Rektor der Medizinischen Akademie Düsseldorf [Halling, 2017:49]. DIE FACHZAHNARZTFRAGE IN DER BRD UND IN DER DDR Der Trend zur Ausdifferenzierung medizinischer Spezialdisziplinen setzte im 19. Jahrhundert ein. Die technischen und naturwissenschaftlichen Innovationen der Zeit begünstigten die Spezialisierung. Im 20. Jahrhundert regten sowohl externe Faktoren, wie der Erste Weltkrieg, als auch interne Faktoren, wie die Erwägungen einzelner Fachdisziplinen, die Ausbildung neuer (zahn-)medizinischer Spezialfächer an [Eulner, 1970:1; Groß, 2019:153]. So umfasste die auf deutschem Reichsgebiet geltende „Prüfungsordnung für Aerzte“ vom 28. Mai 1901 bereits einen Fächerkanon von sieben Prüfungsfächern. Neben der chirurgischen Prüfung galt es unter anderem, in den Spezialbereichen Ohrenheilkunde, Hautund Geschlechtskrankheiten sowie Hals- und Nasenkrankheiten entsprechende Kenntnisse nachzuweisen [Opitz, 1928:28–29,104]. Für die Zahnmedizin waren aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Professionalisierung und Akademisierung solche expliziten Prüfungsbestimmungen nicht vorgesehen [Krischel, Nebe, 2022; Opitz, 1928:171–187; Vollmuth/Zielinski, 2014]. In den 1920er-Jahren drängte die „Facharztfrage“ auf die Agenda. Auf dem 43. Deutschen Ärztetag in Bremen (1924) wurde mit der sogenannten „Bremer Richtlinie“ die erste deutsche Facharztordnung verabschiedet. Diese zählte nun 14 medizinische „Sonderfächer“, unter denen auch die „Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten“ aufgeführt war. Neben einer Doppelapprobation als Arzt und Zahnarzt wurde eine dreijährige mehrjährige Fachausbildung gefordert. Ab 1935 traten der „Fachzahnarzt für Kieferorthopädie“ und der „Fachzahnarzt für Kieferchirurgie“, der 1942 noch einmal in „Fachzahnarzt für Kieferkrankheiten“ umbenannt wurde, neu hinzu [Groß, 2019:154; Staehle, 2010:210–211; Vollmuth/Zielinski, 2014]. In der Bundesrepublik führte die Weiterbildungsordnung aus dem Jahr 1968 zu einer erneuten Erweiterung des Fächerkanons. Als eigenständige DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat GESELLSCHAFT | 75
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