zm112, Nr. 13, 1.7.2022, (1274) Mit dem Hinweis auf den Ruf des ZMVZ und auf das Gebot des Nichtschadens könnten beide Zahnärzte mit dem Leitenden Zahnarzt sprechen. Eine Verabredung könnte sein, dass der junge Kollege alle Fälle mit der kieferorthopädisch tätigen Kollegin bespricht und in dem Zusammenhang klärt, ob die jeweilige Behandlung ins Spektrum der Kollegin fällt oder nicht. Sie sollte dann aber ohne Mitbestimmung des Leitenden Zahnarztes die Freiheit haben zu entscheiden, ob der Patient einer kieferorthopädischen Fachpraxis zugeführt wird. Ergibt das Gespräch mit der kieferorthopädischen Kollegin keinen ihn zufriedenstellenden Konsens, sollte der junge Kollege zusammen mit dem Leiter ein weiteres Gespräch mit ihr nicht scheuen und seine Befürchtungen und Argumente klar mitteilen. Der junge Zahnarzt sollte seinem ärztlichen Gewissen folgen, um nicht täglich seinen Beruf mit Repressalien und im Zwiespalt zu erleben. Sollte das Anliegen des Leitenden, auf keinen Fall Umsatz zu verlieren, weiterhin im Vordergrund stehen, sollte sich der junge Zahnarzt eine andere Stelle suchen. Mit seiner abgeschlossenen Zeit als Ausbildungszahnarzt und seinem ethischen Anspruch kann er heutzutage höchstwahrscheinlich eine Anstellung finden, die seinen Ansprüchen mehr genügt, da dort das Patientenwohl im Vordergrund steht. \ KOMMENTAR 2 Zahnärzte sollten die Grenzen ihrer Kompetenz kennen DR. STEPHAN GRASSL Gartenstr. 2, 85354 Freising sgrassl@outlook.de Foto: privat Der angestellte Zahnarzt P. befindet sich in einem Dilemma, das sich gleich auf drei Ebenen erstreckt: erstens die medizinisch-ethische Ebene, zweitens die rein juristische Ebene und drittens schließlich die psychologische Ebene, die zwar keinen offiziellen Regeln unterliegt, jedoch starke Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis im ZMVZ haben dürfte. Auf der medizinischethischen Ebene können wir, aufbauend auf der Prinzipienethik von Beauchamp und Childress, zu einer differenzierten Analyse gelangen. Das erste Gebot, die Patientenautonomie, verlangt die absolute Entscheidungsfreiheit des Patienten, seine Einwilligung zu jeder seinen Körper oder seine Seele betreffenden Behandlung zu geben oder zu verweigern, nach erfolgter ergebnisoffener, sachlicher und kompetenter Beratung („informed consent“) durch den überweisenden Zahnarzt P. Da sich der Patient generell immer für die Überweisung zu einem ausgewiesenen, nicht dem ZMVZ angehörenden niedergelassenen Fachzahnarzt für KFO entscheiden kann, ist die vom Leitenden Zahnarzt W. (der hier als Arbeitgeber fungiert) kommunizierte Direktive, auch komplexe kieferorthopädische Fälle nur an Kollegen innerhalb des ZMVZ zu überweisen, schon grundsätzlich nicht zu akzeptieren. Der Arbeitgeber verletzt mit seiner Anordnung – und es ist keine „Bitte“, sondern eine ernst gemeinte Anweisung – somit dieses Gebot der Patientenautonomie. Dies ist auch in der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer in § 2 Absatz 3 explizit geregelt. Dort heißt es: „Der Zahnarzt hat das Recht seiner Patienten auf freie Arztwahl zu achten.“ Auch das zweite Gebot – das Prinzip der Schadensvermeidung – wird damit klar verletzt, weil nach Einschätzung des angestellten Zahnarztes P. seine kieferorthopädisch tätige Kollegin K. bei komplexeren Fällen überfordert ist. Offenbar hat sie für schwierige Fälle nicht die 32 | PRAXIS
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