Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 13

zm112, Nr. 13, 1.7.2022, (1306) ZAHNMEDIZIN IM KONTEXT VON KULTUR- UND KUNSTGESCHICHTE Das Orale – mehr als Mund und Zähne Matthis Krischel, Julia Nebe Kein anderer Bereich des menschlichen Körpers ist mit so vielen Assoziationen belegt wie die Mundhöhle. Deswegen lohnt ein Blick auf die Bedingtheiten und Veränderlichkeiten des Oralen in Kunst- und Kulturgeschichte – in der Gegenwart, aber auch in der Vergangenheit. Wie geht der Berufsstand mit seinem dentalhistorischen Erbe um? Was ist es ihm eigentlich wert? Warum die kulturhistorische Perspektive auf Mund und Zähne nicht nur für Kulturwissenschaftler, sondern auch für Zahnärzte im Praxisalltag relevant ist, zeigt dieser Beitrag. In aller Munde“– so hieß die Ausstellung, die das Kunstmuseum Wolfsburg zum „thematischen Reichtum des Oralen“ im Jahr 2021 verantwortete (Abbildung 1). Groß waren die Neugierde und das Interesse am Mundraum als Gegenstand einer Kunst- und Kulturgeschichte, und das trotz pandemiebedingter Einschränkungen. Die ausgestellten künstlerischen Produktionen bildeten die Krönung eines erweiterten Kulturverständnisses zum Thema Orales – lebhaft befeuert durch die sich seit den 1990er-Jahren entfaltenden Debatten um einen „Cultural Turn“, von dem auch die Medizingeschichte nicht unberührt blieb. Damit ist gemeint, dass neben der Hochkultur auch Alltagskultur und menschengemachte Gegenstände des täglichen Gebrauchs, etwa Zahnbürsten, Zahnstocher oder zahnärztliche Instrumente, in den Blick genommen werden. Aber was bedeutet es, die Geschichte des Mundraums, die natürlich untrennbar mit der Geschichte der Zahnmedizin verwoben ist, unter einer kulturwissenschaftlichen Fragestellung zu bearbeiten? Und worin besteht der Zugewinn einer solchen Herangehensweise? [Hofer/Sauerteig, 2007, 108]. KULTURELLE IDENTITÄT UND ZAHNMEDIZIN Diesen Fragen gingen die Medizinhistoriker Hans-Georg Hofer und Lutz Sauerteig bereits im Jahr 2007 nach. Ihr Resümee lautet, dass eine Kulturgeschichte das Potenzial besitzt, den Akteuren – in diesem Fall der Mundgesundheit – bis heute bei der Selbstverortung in der Geschichte ihrer Disziplin und ihrer Rolle in der Gesellschaft zu helfen. Im Zentrum dieses Selbstverortungsprozesses steht immer auch ein erweitertes Kulturverständnis. Es geht um Wertvorstellungen und (Leit-)Ideen sowie damit einhergehende Empfindungen einer (sozialen) Gemeinschaft, oder wie hier einer Profession [Hofer/ Sauerteig, 2007, 108; Hall, 1997, 2]. Die Kulturgeschichte des Oralen stellt heutige Zahnärzte in einen historischen Kontext und hilft ihnen, die manchmal impliziten Vorannahmen und Ängste ihrer Patienten besser zu verstehen. Folgt man der Definition des britischen Soziologen Stuart Hall zur Terminologie der „kulturellen Identität“, so begreift sich diese als fluides Konstrukt. Das heißt, als „nichts Gegebenes, Absolutes, oder Greifbares, sondern vielmehr [als] eine Produktion, die sich in einem stetigen und unendlichen Prozess befindet“ [Winter, 2013]. Die Ausstellung „In aller Munde“ bildete hierfür ein Beispiel. Sie eröffnete künstlerische und zahnmedizinische Perspektiven auf den Mundraum. Die in der Ausstellung gezeigten Exponate (Malerei, Skulpturen, Installationen, Grafiken und weitere) dienten als Repräsentationsobjekte des Oralen [Gabert, 2020]. Im Gang durch die Ausstellung eröffnete sich dem Betrachter die Möglichkeit, über den Mundraum, über Mundgesundheit und über die Rolle von Zahnärzten in der Gesellschaft nachzudenken. DAS VERSCHMÄHTE ERBE: DIE SAMMLUNG PROSKAUER/WITT Und wie positioniert sich die Zahnmedizin selbst zu ihrer kulturellen und kulturhistorischen Identität? Betrachtet man den Umgang der zahnmedizinischen Profession mit ihrem Erbe, wie der Sammlung Proskauer-Witt und der damit assoAbb. 1: Exponat aus der Ausstellung „Das Orale“ 2021 in Wolfsburg: Mithu Sen, Phantom Pain (Detail), 2018, Künstliche Zähne und Dentalkunststoff, Kunstmuseum Wolfsburg, © Mithu Sen Foto: Marek Kruszewski 64 | GESELLSCHAFT

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