zm112, Nr. 15-16, 16.8.2022, (1502) der kollagenfaserigen Hüllstrukturen (Tabelle 1) [Seddon, 1943; Sunderland, 1978]. Seddon unterteilt hierbei in drei Hauptkategorien: Die Neurapraxie (Sunderland I) beschreibt eine Verletzung der Myelinscheide, die als geringste Form der Nervenschädigung spontan in Tagen bis Wochen verheilen kann. Die Axonotmesis (Sunderland II) beschreibt eine ausgedehntere neuronale Verletzung der Axone innerhalb ihrer intakten Hüllstrukturen. Nervenverletzungen, die mit einer Unterbrechung der kollagenhaltigen Hüllstrukturen (weitgehende Durchtrennung der Nerven) einhergehen, werden als Neurotmesis bezeichnet (Sunderland III–IV). PATHOPHYSIOLOGIE VON NERVENVERLETZUNGEN Im Unterschied zu vielen anderen Geweben reagiert Nervengewebe auf eine Traumatisierung nicht mit einer Steigerung der Mitoserate oder einer Zellproliferation. Bei ausgedehnteren peripheren Nervenverletzungen setzt eine anterograde axonale Degeneration des distalen Nervenstumpfs ein [Jessen und Mirsky, 2019]. Dieser Prozess ist auch als Waller-Degeneration bekannt und ist ein Alleinstellungsmerkmal des Nervengewebes. Die Waller-Degeneration beginnt bereits 24 bis 36 Stunden nach dem Ereignis und beschreibt die vollständige phagozytäre Auflösung der Myelinscheide und des Axons distal vom Ort der Schädigung [Waller und Owen, 1850]. In den Raum, der von den phagozytierten Axonen und Myelinscheiden hinterlassen wird, können im Rahmen der Regeneration anschließend nachwachsende Axone des proximalen Nervenstumpfs einsprießen. Hierfür ist es maßgeblich, dass neuronale Hüllstrukturen vorhanden sind, um diesen Regenerationsprozess zu leiten. Schwann-Zellen haben hierbei eine zentrale Rolle, da sie neurotrophe Faktoren ausschütten, die die Aussprossung von Axonen fördern und darüber hinaus sogenannte Büngner‘sche Bänder bilden. Diese Bänder dienen der gerichteten Aussprossung von Axonen aus dem proximalen Stumpf entlang des Nervenverlaufs. Die Regenerationsgeschwindigkeit beträgt dabei maximal 1 bis 2 mm/d [Burnett und Zager, 2004; Jessen und Mirsky, 2019]. Zu berücksichtigen ist, dass insbesondere Muskelgewebe in der Zeit der Denervation atrophiert. Erreichen die aussprossenden Axone eines motorischen Nervs das muskuläre Erfolgsorgan zu spät, sind die motorischen Endplatten bereits atrophiert. Um diesem Effekt vorzubeugen, sollte eine Nervenrekonstruktion spätestens innerhalb von vier bis sechs Monaten erfolgen. Es gilt allgemein zu beachten, dass auch bei adäquat durchgeführten Nervenrekonstruktionen lediglich mit einer erwartungsgemäßen funktionellen Rehabilitation von 50 bis 60 Prozent des Ursprungszustands auszugehen ist [Schwerdtfeger et al., 2013; Grinsell und Keating, 2014]. CHIRURGISCHE PRINZIPIEN BEI DER THERAPIE KLINISCHE KONTROLLE BEI NEURAPRAXIE UND AXONOTMESIS Die Art und das Ausmaß der Nervenverletzung bestimmen die Notwendigkeit und die zeitliche Dringlichkeit einer chirurgischen Intervention. Drucklähmungen oder Quetschverletzungen können eine Neurapraxie oder Axonotmesis verursachen. Häufige Ursachen sind zum Beispiel eine fehlerhafte Patientenlagerung während einer Allgemeinanästhesie, die Arbeit mit vibrierenden Geräten oder eine „Saturday Night“-Lähmung mit einer Kompression von Nerven während des Schlafes. Im zahnärztlichen Bereich ist zum Beispiel die Nervenkompression durch die Infiltration von Lokalanästhetika oder durch Instrumentendruck bei einer Osteotomie zu nennen. Obwohl diese milden Formen der Nervenverletzungen aufgrund der erhaltenen Hüllstrukturen eine gute Spontanheilungstendenz haben, könEINTEILUNG PERIPHERER NERVENVERLETZUNGEN NACH SEDDON UND SUNDERLAND Seddon Neurapraxie Axonotmesis Neurotmesis Tab. 1 Sunderland Grad I Grad II Grad III Grad IV Grad V Definition Fokale Demyelinisierung bei Erhalt der axonalen Kontinuität Kontinuitätsunterbrechung der Axone unter Erhalt der Hüllstrukturen, Dauer der Lähmung: Wochen bis Monate Kontinuitätsunterbrechung der Axone und des Endoneuriums Kontinuitätsunterbrechung der Axone und des Endo- und Perineuriums Kontinuitätsunterbrechung der Axone und des Endo-, Peri- und Epineuriums, vollschichtige Trennung des Nervs PROF. DR. MED. DR. MED. DENT. MARC CHRISTIAN METZGER Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen, Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg Foto: Universitätsklinik Freiburg 52 | ZAHNMEDIZIN
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