Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm112, Nr. 15-16, 16.8.2022, (1505) zu-Seit-Anastomosen sind ebenfalls möglich und können komplementär zu einer anatomischen Nervenrekonstruktion durchgeführt werden, um zusätzlich eine frühzeitige Innervation des Zielorgans sicherzustellen [Vanaclocha-Vanaclocha et al., 2017; Panagopoulos et al., 2019]. CHIRURGISCHE REKONSTRUKTION IN DER ZAHNMEDIZIN REKONSTRUKTION DES N. LINGUALIS Bei einer Verletzung des N. lingualis im Rahmen einer Weisheitszahnextraktion wird eine chirurgische Exploration über die vorbestehende Operationsnarbe vorgenommen und eine Erweiterung des Zugangs nach anterior vorgenommen. Nach vollständiger Darstellung der Nervenstümpfe wird zunächst eine externe Neurolyse durchgeführt. Liegt eine oberflächliche Schädigung des N. lingualis vor, ist die Abtragung epineuralen Narbengewebes ausreichend, während eine vollständige Durchtrennung des Nervens meist die Einlage eines Interponats erfordert. Um eine Gefährdung der Nervenanastomose sowie des Interponats zu vermeiden, sollte eine sekundäre Rekonstruktion idealerweise erst nach Abheilung der Operationswunde (nach circa drei bis vier Wochen) durchgeführt werden [Schmelzeisen, 2000; Hausamen, 2003; Panagopoulos et al., 2019; Eufinger et al., 2021]. REKONSTRUKTION DES N. ALVEOLARIS INFERIOR Die chirurgische Darstellung des N. alveolaris inferior wird meist ausgehend vom Foramen mentale durchgeführt. Durch modellierendes Abtragen der bukkalen Kortikalis mittels Piezo-Technik kann der Canalis mandibulae mit dem enthaltenen Nerven schonend freigelegt werden, wobei im anterioren Bereich insbesondere das mögliche Vorliegen eines „anterioren Loops“ berücksichtigt werden muss. In allen Fällen einer gesicherten Durchtrennung des N. alveolaris inferior ist die Rekonstruktion des Nervens mittels eines Interponats angezeigt. Der rekonstruierte Nerv wird nach erfolgter Osteoplastik lateral des Knochens positioniert, um einer mechanischen Schädigung vorzubeugen [Schmelzeisen, 2000; Panagopoulos et al., 2019; Eufinger et al., 2021]. REKONSTRUKTION DES N. FACIALIS Die vorzunehmenden chirurgischen Maßnahmen nach einer Schädigung des N. facialis sind stark abhängig vom Schädigungsmuster sowie von der Zeit, die seit der Schädigung vergangen ist. Wenn eine direkte Koaptation oder die Einlage eines Interponats nicht infrage kommt, empfiehlt sich die End-zu-Seit-Verbindung eines Astes des N. hypoglossus mit dem geschädigten Fazialisast. Mit der sogenannten HypoglossusFazialis-Jump-Anastomose kann bei proximalen Verletzungen des N. facialis verhindert werden, dass die Gesichtsmuskulatur irreversibel atrophiert. Im Rahmen einer sogenannten Cross-Face-Nerve-Graft-Operation besteht darüber hinaus die Möglichkeit eines Anschlusses des geschädigten Nervs der betroffenen Seite an einen der Rr. Temporales oder zygomatici des N. facialis der Gegenseite. Bei länger zurückliegenden Schädigungen mit bereits eingetretener Atrophie der mimischen Muskulatur kann auch die Rekonstruktion mittels Muskeltransfer, Zügelungsplastik oder der Insertion von Implantaten (zum Beispiel Goldgewichte im Bereich des Augenlids) angezeigt sein [Schmelzeisen, 2000; Vanaclocha-Vanaclocha et al., 2017; Panagopoulos et al., 2019; Eufinger et al., 2021]. Muskeltransfers können durch die Verlagerung lokaler Muskulatur wie zum Beispiel des M. temporalis erfolgen oder durch den Transfer von Muskulatur aus anderen Körperregionen wie der M. gracilis. PHARMAKOLOGISCHE ANSÄTZE Um die komplexen Vorgänge der Waller-Degeneration und der hiermit verbundenen axonalen Aussprossung in der akuten Phase der Nervenverletzung zu unterstützen, ist die umfangreiche Vermehrung von Schwann-Zellen am Schädigungsort erforderlich. Diese induzieren die Ausbildung der Büngner‘schen Bänder, die Sezernierung von neurotrophen Faktoren und wirken auch unterstützend in den Prozess der Phagozytose ein, der notwendig ist, um anfallenden Zellschutt zu beseitigen. In zahlreichen aktuellen Studien wurde gezeigt, dass eine Kombination von Vitamin B12 mit weiteren B-Vitaminen (Vitamin B Komplex) eine höhere Expression von neurotrophen Faktoren bewirken kann und die Nukleinsäuresynthese fördert. Die bisherige S3-Leitlinie (2013) spricht lediglich eine offene Empfehlung für die Verabreichung von Vitamin B aus, da ein durchschlagender klinischer Effekt beim Menschen bisher nicht gezeigt werden konnte [Schwerdtfeger et al., 2013]. Die Verabreichung von Vitamin B Komplex kann bei einem günstigen RisikoNutzen-Verhältnis jedoch in den ersten Wochen nach Ereignis erwogen werden [Goyal, 2015; Baltrusch, 2021]. PD DR. MED. DENT. WIEBKE SEMPER-HOGG Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen, Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg Foto: Universitätsklinik Freiburg DR. MED. DR. MED. DENT. JULIA VERA WEINGART Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen, Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg Foto: Universitätsklinik Freiburg ZAHNMEDIZIN | 55

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