Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm112, Nr. 15-16, 16.8.2022, (1523) lichen mit kariesfreiem Gebiss ist bei einem Familienhintergrund mit hohem Sozialstatus 13 Prozent höher als bei einem Hintergrund mit niedrigem Sozialstatus. Einerseits bemerkt dazu das IDZ: „Die engmaschige Gruppen- und Individualprophylaxe erfasst auch benachteiligte Kinder und andere Risikogruppen. Flächendeckende, früh einsetzende Präventionsmaßnahmen, solidarisch finanziert durch die gesetzlichen Krankenkassen, zahlen sich für alle Menschen aus, unabhängig von sozialen Schichten“ [IDZ, 2016:9]. Andererseits kommen Forscher, die sich mit sozialer Ungleichheit und Mundgesundheit auseinandersetzen, zu einem ernüchternden Ergebnis: Weiterhin prägen Faktoren wie Höhe des Einkommens, Bildungsstand, ungünstige Ernährungsgewohnheiten oder Zahnputzmuster das individuelle Erkrankungsrisiko für eine Zahnkaries [IDZ, 2016:26–27; Ziller, 2007:2–3]. DIE ZÄHNE SOLLEN AUCH GUT AUSSEHEN Diese Probleme der öffentlichen Mundgesundheit bilden einen Kontrast zum Trend hin zu einer ästhetischen und wunscherfüllenden Zahnmedizin [Groß, 2014]. Im Unterschied zur prophylaktischen oder kurativen Behandlung, die auf die beiden Säulen der zahnärztlichen Indikation und des Patientenwillens gestützt ist, verschiebt sich das Verhältnis bei der wunscherfüllenden Zahnmedizin weg von einem Behandlungsbedarf mit dem Ziel der Funktionserhaltung oder -wiederherstellung hin zu einer Therapie, die sich an individuellen, ästhetischen, Wünschen des Patienten orientiert [Neitzke/Oppermann, 2016, Neitzke, 2015]. Hinterfragt werden kann die wunscherfüllende Zahnmedizin vor dem Hintergrund einer medizinethischen Debatte um potenzielle Entgrenzungsdimensionen der modernen (Zahn-) Medizin. Ist ein Enhancement – also eine Verbesserung biologischer, psychologischer und sozialer Attribute– deutlich über ein Normalmaß hinaus zulässig? Welche Risiken darf ein Patient dafür eingehen und welche speziellen Anforderungen müssen an eine Aufklärung gestellt werden? Und wie verträgt sich eine solche Behandlung mit den geltenden professionsethischen Standards und den knappen Ressourcen im Gesundheitssystem [Aquino, 2020]? Ein Beispiel für diese Auseinandersetzung ist die Kritik an der oftmals nur aus ästhetischen Gründen legitimierbaren kieferorthopädischen Anwendung von Zahnspangen. Diese Diskussion weckte bereits 2017 das Interesse des Bundesrechnungshofs: Demnach erhielten über 50 Prozent der Kinder in Deutschland eine Zahnspange. Trotz hoher Zuzahlungen seitens der Elternschaft investieren die Krankenkassen jährlich rund 1,1 Milliarden Euro in kieferorthopädische Maßnahmen. In der Kritik stand dabei der unzureichend erforschte medizinische Nutzen derselben [Hendrich, 2018]. Das Dilemma um ästhetische Zahnmedizin verschärft sich vor dem Hintergrund, dass sich gutes Aussehen in vielen Lebensbereichen positiv auswirken kann. So zeigt eine Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), dass „[g]utes Aussehen [...] den wirtschaftlichen Erfolg [steigert] und [...] sich damit positiv auf die individuelle Lebenszufriedenheit aus[wirkt]“ [Keßler, 2012]. HEILIGENSCHEIN UND TEUFELSHÖRNER Lange prägte eine Gleichsetzung von physischer Schönheit mit anderen positiven Charaktereigenschaften das Denken. Aristoteles wies bereits in der Antike auf diesen Zusammenhang hin: „Health and beauty are good because they are (1) excellences of the body and (2) productive of many things” [Aristoteles zitiert nach Heinaman, 1993:39]. Bis heute wird nicht nur im Bereich von Kunst und Kultur ein solcher Zusammenhang hergestellt [Krischel/Nebe, 2022c]. In der Sozialpsychologie firmiert dieses Phänomen unter dem „halo effekt“, zu Deutsch „Heiligenschein-Effekt“. Abb. 2: Drastischer Kariesrückgang in Deutschland Quelle: IDZ, 2016 ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. GESELLSCHAFT | 73

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