zm112, Nr. 20, 16.10.2022, (1968) ist ein Steckenpferd von mir, ich gebe mittlerweile regelmäßig Seminare, die sich mit Ernährung und Karies oder Parodontitis beschäftigen, vor allem aber im Hinblick auf die Gesunderhaltung der Zahnärztin und des Zahnarztes selber. Gerade da grassieren ja so viele Mythen, dass diese Vorträge immer auf große Resonanz stoßen. In Bezug auf unsere Patienten sehe ich immer mehr, dass wir die klassischen Erst-Detektoren von Fehlernährung sind, da die Effekte der Fehlernährung beim Arzt viel später erkannt werden als bei uns. Daher spreche ich meine Patienten seit Jahren aktiv an und gerade die aufgeklärten finden das super, denn Mikronährstoff- und Vitamin-D-Mangel sind extrem häufig anzutreffen. Ein Metatrend unserer Zeit ist die Digitalisierung. Im Gegensatz zu den politischen Digitalprojekten können sich die digitalen Innovationen in der Zahnmedizin durchaus sehen lassen … ... ganz klar, hier sind wir ja seit jeher Innovationstreiber. Digitale Workflows machen unsere Prozesse effizienter und nachhaltiger, digitales Röntgen hat die Strahlenbelastung gesenkt und auch die Archivierung wurde erleichtert. Nicht unerwähnt bleiben darf auch, dass die Digitale Zahnmedizin in der Pandemie sehr resistent war. Was ich im wissenschaftlichen Beirat der Arbeitsgemeinschaft „Dynamisches Digitales Modell“ an aufregenden Ideen miterleben darf, ist außerordentlich. Die Idee, die individuelle Gebissbiografie longitudinal mit Intraoralscannern zu monitoren, ist wahrlich ein Thriller. Auch in meiner Abteilung sind heute selbst im Studentenkurs 90 Prozent der Arbeiten digital hergestellt. Das hätte ich mir vor zehn Jahren nicht träumen lassen. Kommt bei Ihnen nicht manchmal Wehmut auf, wenn über die neuen Workflows handwerkliches „analoges“ und materialkundliches Wissen verlorengeht? Ich sage meinen Studenten immer – mit einem Augenzwinkern –, dass sie 50 Prozent der von mir gelehrten Inhalte später nicht brauchen werden, ich ihnen aber nicht sagen kann, was unter diese 50 Prozent fällt und sie daher leider alles lernen müssen. Aber mal im Ernst: Was gemacht wird, wird auch gelehrt, aber was nicht mehr gemacht wird, darf auch nicht gelehrt werden – über Bord mit dem alten Zeug, dafür ist das Leben zu kurz und gerade in Zeiten starker Innovationskraft müssen obsolete Altlasten nicht zuletzt deswegen eliminiert werden, um neue Themen wie zum Beispiel zahnärztliche Schlafmedizin, Ernährung, Kommunikation aufnehmen zu können – das Zahnmedizinstudium muss studierbar bleiben. Besonders erfolgreich ist die Zahnmedizin beim Thema Prävention. Nie zuvor haben Menschen so lange ihre natürlichen Zähne erhalten können. Wie viel Potenzial steckt noch in der Prävention? Die Individualprophylaxe und die kompromisslose Anwendung von Fluorid haben uns in den letzten 30 Jahren 48 Prozent weniger Füllungen beschert. Das wurde von den Universitäten angestoßen und wissenschaftlich begleitet, aber die erfolgreiche Arbeit haben die Zahnärztinnen und Zahnärzte bewerkstelligt – das ist fantastisch und diese Zahlen müssten eigentlich in jedem Wartezimmer hängen. Denn die präventive Kariologie ist das beste Präventionsfach in der gesamten Medizin. Fragen Sie mal die Onkologen oder noch mehr die Psychiater nach der Prävalenz der von Ihnen betreuten Krankheiten. Trotz der Erfolge bleibt noch genug zu tun. Die Prävalenz der Parodontitis ist noch immer viel zu hoch, ebenso wie die der Karies in sozial schwachen Bevölkerungsgruppen. Die Reduktion bei Primärkaries wird durch die Demografie über kurz oder lang von der Wurzelkaries konterkariert werden. Nicht zuletzt deswegen habe ich in meiner Abteilung zum 1. Oktober die deutschlandweit erste Professur für „Kariologie des Alterns“ besetzt – Prof. Carolina Ganß wird mein Team ab sofort auf dem Sektor der Wurzelkariesforschung substanziell verstärken. Sie haben während der Pandemie den Begriff der „Oralen Medizin“ popularisiert. Sehen Sie hier einen Paradigmenwechsel im Verständnis des Faches? Uns in der DGZMK war es gerade in der Pandemie wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Mundhöhle die erste Verteidigungslinie des Immunsystems ist, und genau da liegt ein großes, historisch gewachsenes Problem. Dadurch, dass für eine viel zu lange Zeit alle zahnmedizinischen Inhalte rigoros aus der Medizinerausbildung getilgt wurden, haben viele Ärzte null Ahnung von der Mundhöhle – das führt zu einer chronischen Unterschätzung der Zahnmedizin. Daher ist die Neudefinition der Zahnmedizin als „orale Medizin“ so wichtig. Hinzu kommt: Die Zahnmedizin wird sich in der kommenden Dekade mehr verändern als in den 40 Jahren davor. Wir befinden uns in einer historischen Phase des Wandels der Zahnmedizin, von einem mechanistisch-funktionalen und kurativen Weltbild hin zu einer Oralen Medizin, die die biologischen Zusammenhänge zwischen lokaler und systemischer Gesundheit mit ihren Wechselbeziehungen zur Medizin in den Fokus stellt. Genau diese Betrachtungsweise des oralen Systems als erste Verteidigungslinie unseres Immunsystems bezieht die zahnmedizinische Prävention, Diagnostik und Therapie von Erkrankungen orofazialer Strukturen und oraler Manifestationen von lokalen und systemischen Erkrankungen mit ein. Das Programm des kommenden Deutschen Zahnärztetages ist mit „Kritisch hinterfragt: Ethik – Biologie – Sport“ überschrieben. Was dürfen die Teilnehmer vom diesjährigen Leitkongress des zahnärztlichen Berufsstands erwarten? „Was gemacht wird, wird auch gelehrt, aber was nicht mehr gemacht wird, darf auch nicht gelehrt werden – über Bord mit dem alten Zeug, dafür ist das Leben zu kurz.“ 58 | POLITIK
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