zm112, Nr. 22, 16.11.2022, (2164) Das Arzneimittelgesetz verbietet es dem Behandler daher nicht – gleich ob es sich um Off-Label-Use, Unlicensed Use oder Compassionate Use handelt – ein nicht beziehungsweise nicht für die konkrete Verwendung zugelassenes Medikament zur Behandlung im individuellen Fall einzusetzen. In der Aciclovir-Entscheidung stellte das OLG Köln (Urteil vom 30. Mai 1990 – 27 U 169/89, BeckRS 9998, 10133) sogar ausdrücklich fest, dass der OffLabel-Use eines Medikaments gleichwohl medizinischer Standard sein kann. Zu beachten ist, dass sich der dem Patienten geschuldete Sorgfaltsmaßstab beim Off-Label-Einsatz eines Medikaments vom Standard eines „durchschnittlichen gewissenhaften Facharztes“ auf den Standard eines „vorsichtigen gewissenhaften Facharztes“ erhöhen kann, soweit die OffLabel-Therapie noch nicht allgemein anerkannter Standard ist. Daraus können dann im Einzelfall erhöhte Anforderungen an die Risiko- und die Sicherungsaufklärung sowie die engmaschigere Begleitung (Einbestellung) des Patienten resultieren. AUFKLÄRUNG Im Hinblick auf den gemäß Paragraf 630e BGB zu beachtenden Aufklärungsstandard ergeben sich bei der Botulinumtoxin-Therapie des Bruxismus ansonsten keine Besonderheiten gegenüber dem ansonsten geltenden Aufklärungsmaßstab. Insbesondere sind folgende Aspekte aufklärungsbedürftig: \ Off-Label-Use des Botulinumtoxins; \ Beginn des Eintritts der Wirkung frühestens nach 48 bis 72 Stunden, gegebenenfalls sogar erst nach einer Woche; \ (dauerhafte) Therapiewiederholung kann bis zu dreimal jährlich erforderlich sein; \ ausgeprägte Atrophie des Musculus masseter mit der etwaigen Folge einer Verschmälerung des hinteren Untergesichts bis hin zur Einschränkung der Kaumuskelkraft ist möglich; \ Risiko der Fehlinjektion beziehungsweise der Diffusion des Botulinumtoxins in angrenzende Muskeln (vor allem in die mimisch relevanten Musculi risorii et zygomatici) und die entsprechenden Folgen; \ keine regelhafte Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen; vorherige Bestätigung der Kostenübernahme durch die PKV wird empfohlen; konkreter Kostenrahmen. Diese Aufklärungserfordernisse treffen Zahnarzt, Oralchirurg und MKG-Chirurg gleichermaßen. ÄSTHETISCHE INDIKATION Teilweise werden paralysierende Behandlungen des Musculus masseter aus vornehmlich ästhetischen Gründen und ohne medizinische Indikation im Sinne einer Bruxismustherapie durchgeführt. Diese erfolgen immer häufiger sogar im „to-go“-Format und sind aus (zahn)ärztlicher Sicht kritisch zu betrachten. Die Verabreichung von Botulinumtoxin in den Musculus masseter ist nur bei korrekter Indikationsstellung medizinisch zu vertreten und gehört wegen der Notwendigkeit der Kenntnisse der Therapie der Grunderkrankung, der anatomischen Gegebenheiten und der möglichen Komplikationen (Tabelle) in erfahrene Hände. Unabhängig davon kommt die Verabreichung von Botulinumtoxin zu rein ästhetischen Zwecken durch Zahnärzte aus Rechtsgründen nicht in Betracht, weil dies nicht durch das Zahnheilkundegesetz abgedeckt wird. FAZIT Gerade bei therapierefraktärem Bruxismus kann die Anwendung von Botulinumtoxin einen Erfolg versprechenden Ansatz darstellen. Die Basis dieser Behandlung bilden eine gründliche Anamnese und Untersuchung sowie eine ausführliche Aufklärung. Letztere muss insbesondere die mit der Therapie einhergehenden Risiken, ihren möglichen Nutzen und die häufig von den Patienten selbst zu tragenden Kosten beinhalten. Die paralysierende Behandlung des Musculus masseter stellt einen relevanten Eingriff in die Funktion des Kaumuskelapparats dar. Daher ist es zur Wahrung des dem Patienten geschuldeten Standards eines erfahrenen Facharztes zwingend erforderlich, dass die Indikationsstellung nur durch beziehungsweise in Abstimmung mit einem hier erfahrenen und für dieses Therapieverfahren qualifizierten Behandler erfolgt. Dies sind im Bereich der Bruxismustherapie regelmäßig Fachärzte für MKG-Chirurgie, Fachzahnärzte für Oralchirurgie oder Zahnärzte. \ BEGRIFFLICHKEITEN \ Off-Label-Use: der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Indikationen, Patientengruppen) \ Unlicensed Use: Einsatz eines Arzneimittels, für das zwar national keine Marktzulassung besteht, aber in anderen Jurisdiktionen \ Compassionate Use: Einsatz eines (noch) nicht zugelassenen Arzneimittels im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, in der Regel bei Patienten, für die keine weiteren Behandlungsalternativen mit zugelassenen Arzneimitteln mehr zur Verfügung stehen 30 | ZAHNMEDIZIN
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