zm112, Nr. 22, 16.11.2022, (2210) INTERVIEW MIT PROF. DR. CAROLINA GANß „Erhalte Deinen Zahn und Deine Papille!“ Seit dem 1. Oktober gibt es in Marburg den bundesweit ersten Lehrstuhl für die „Kariologie des Alterns“. Mit der Einrichtung der Professur wird deutlich, dass die Karies trotz vielfältiger Erfolge in der Bekämpfung der Erkrankung ein wichtiges Thema in der Zahnmedizin bleibt. Wir haben die erste Lehrstuhlinhaberin Prof. Dr. Carolina Ganß gefragt, welche Schwerpunkte sie in ihrer Arbeit setzen will. „Die Kariologie des Alterns“ – das klingt schon fast nach einer neuen Wissensdisziplin, also nach dem Fokus Wissenschaft. Werden Sie künftig mehr forschen als heilen? Prof. Dr. Carolina Ganß: Das ist eine gemeine Frage für jeden, der in der Medizin arbeitet und Menschen zu mehr Gesundheit verhelfen will. Ich sage es mal pragmatisch: Mein Antrieb ist, heute zu forschen, um morgen besser heilen zu können. Aber speziell die Fragestellungen, die mich interessieren, sind eigentlich nur klinisch zu beforschen und da geht beides sowieso zusammen. Mit dem Alter verändern sich die Bedingungen in der Mundhöhle. Was weiß man heute über die Kariesrisikofaktoren im Verlauf der Lebensspanne, die „Kariologie des Alterns“? Es gibt viele Faktoren, die im Verlauf des Älterwerdens Einfluss auf die Verhältnisse im Mundraum nehmen: Veränderungen im Stoffwechsel, in der Leistung der Speicheldrüsen, aber auch Allgemeinerkrankungen, Medikamente und vieles andere mehr haben Einfluss auf das Kariesrisiko. Das bedeutet, dass die Mundgesundheit plötzlich aus der Balance geraten kann. Ganz offensichtlich ist das bei schwerwiegenden Erkrankungen mit nebenwirkungsreichen Therapien wie Tumorerkrankungen. Was wir sicherlich noch nicht so auf dem Schirm haben, sind die Effekte von Therapien, die scheinbar wenig Wirkungen in der Mundhöhle haben, beispielsweise blutdrucksenkende Medikamente, die den Speichelfluss verringern können. Der Verbrauch speziell dieser Medikamente hat im vergangenen Jahrzehnt enorm zugenommen. Ein anderes Problem ist die Polypharmazie, also die gleichzeitige und dauerhafte Einnahme vieler Arzneimittel, die einigen Studien zufolge über 40 Prozent der über 65jährigen betreffen. Wenn man international Literatur zu Polypharmazie sucht, gibt es fast 13.000 Treffer – aber nur 48, wenn man nach Polypharmazie und Speichel sucht. Dabei hat eine aktuelle Publikation aus der Ship-Studie ganz klar gezeigt, dass potenziell xerogene Medikamente und Polypharmazie einen deutlichen Einfluss auf die Speichelfließraten haben. Das Thema Karies schien mit den Erfolgen in der Kariesreduktion in der Spur zu sein – bis die Wurzelkaries in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus geriet. Was ist da passiert? Wenn immer mehr Zähne bis ins hohe Alter erhalten bleiben, können diese natürlich auch eine Wurzelkaries entwickeln – sofern Rezessionen vorliegen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob der stärkere Fokus tatsächlich mit einer Zunahme der Prävalenz einhergeht, jedenfalls geben das die Daten der letzten Mundgesundheitsstudie nicht her. Es scheint sogar ein gewisser Rückgang vorzuliegen. Das geht auch einher mit einer Abnahme der Prävalenz von Parodontalerkrankungen sowohl PROF. DR. CAROLINA GANß ... ist seit 10/2022 Leiterin der Sektion Kariologie des Alterns an der Poliklinik für Zahnerhaltung der Philipps-Universität Marburg und des Universitätsklinikums Gießen und Marburg. Sie ist zudem Executive Board Member der European Association for Caries Research (ORCA), Editor in Chief der Fachzeitschrift „Caries Research“ und Gutachterin für eine Vielzahl internationaler Fachzeitschriften. Forschungsgebiete: säureinduzierte Zahnhartsubstanzerkrankungen, Beobachtung von Mundhygieneverhalten und Empowerment Foto: privat 76 | ZAHNMEDIZIN
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