zm Nr. 03, 01.02.2023, (106) 12 | TITEL Stillen und Mundgesundheit Maren Mittelhammer Stillen ist ein Streitthema — auch und gerade mit Blick auf die Zahngesundheit, Stichwort ECC. Umso wichtiger ist für Zahnärztinnen und Zahnärzte ein solides Hintergrundwissen, damit sie Familien in der täglichen Praxis korrekt beraten können. Fakt ist: Karies ist eine hauptsächlich ernährungsbedingte, multifaktorielle Erkrankung. Es ist bekannt, dass es bei der Kariesentstehung nicht nur Substrat, Plaque, Wirt und Metaboliten bedarf, sondern die Kariogenität der Nahrung und die Frequenz der Nahrungsaufnahme in besonderem Maß zur Entstehung von kariösen Läsionen beitragen [Díaz-Garrido et al., 2016]. Allgemein ist die Ernährung hochentwickelter Gesellschaftender westlichen Welt einem sehr starken Wandel unterlegen: Industriell hochverarbeitete Lebensmittel, Instantgerichte und die Aufnahme von zu viel Zucker, Salz und Fett haben erhebliche Auswirkungen auf die Zahn- und Kiefergesundheit. An die Änderung der Lebensgewohnheiten musste sich auch die Zahnmedizin und Kieferorthopädie anpassen. Zähne sind das Frühwarnsystem des Körpers Zahnärztinnen und Zahnärzte sind naturgemäß auf den Bereich der Zahn-, Mund- und Kiefergesundheit fokussiert. Allerdings wird diese Fokussierung vonseiten der Humanmedizin und der Politik häufig kritisiert. Es gilt die Ganzheitlichkeit des Arztberufs nicht aus den Augen zu verlieren: Der Mund existiert nicht abgetrennt vom Rest des Körpers. Vielmehr können die Zähne als „Sentinel“ (deutsch: Wächter) der Gesundheit angesehen werden. Sie sind gewissermaßen ein Frühwarnsystem des Körpers für falsche Ernährung. Erkranken sie, ist das ein wichtiges Signal für eine notwendige Veränderung. Das individuelle Kariesrisiko jedes Menschen wird erheblich durch sein orales Mikrobiom beeinflusst. Die Besiedelung der Mundhöhle mit Streptococcus mutans, der weiterhin als Leitkeim eines schädlichen oralen Mikrobioms gilt, findet meist im Kleinkindalter durch Übertragung der Eltern statt. Gemeinsam genutztes Geschirr oder das Ablecken von Schnullern beschleunigen die Kolonisierung der bei Geburt wenig besiedelten Mundhöhle des Babys. Die EuropäischeGesellschaft für Kariesforschung(ORCA)zähltKariesdennoch seit 2015 nicht mehr zu den klassischen Infektionskrankheiten [BZÄK, Tag der Zahngesundheit, 2016]. Grund hierfür istdasveränderteVerständnisfürKariespathogenese und -epidemiologie: Die Entstehung von Karies unterliegt einem dynamischen Prozess aus dem Zusammenspiel azidogener, azidophiler Bakterien, Metaboliten auf Kohlenhydrat-Basis und der Zahnhartsubstanz. Warum das Mikrobiom von Stillkindern anders ist Das orale Mikrobiom liefert indes durchaus Anhaltspunkte, die auf Unterschiede bei gestillten und nichtgestillten Kindern in den ersten zwei Lebensjahren hinweisen. Galt bisher die Annahme, dass das frühe orale Mikrobiom der Kinder dem der Mutter sehr ähnlich ist, unterstützen neue Studienergebnisse den Ansatz des ernährungsabhängigen Mikrobioms [Kageyama et al., 2022]. Danach kanndas teilweise stark vonder Mutter differierende orale Mikrobiom gestillter Säuglinge wahrscheinlich durch die Bakterienwachstum regulierende Schutzfunktion der Muttermilch erklärt werden. Sowird die Homöostase der oralen Keimzusammensetzung durch die unterschiedlichen Substratvoraussetzungen von natürlicher und künstlicher Säuglingsmilch beeinflusst. Muttermilch ist eine lebendige, dynamische Flüssigkeit, die neben dem Kohlenhydrat Laktose auch Oligosaccharide, Proteine, Fette, Vitamine, Mineralien, Metalle, Wachstumsfaktoren, Peptide, Hormone, Enzyme und Immunfaktoren enthält, teilweise in individuell unterschiedlichen Mengen [Geddes, 2021]. Besonders wichtig sind die Inhaltsstoffe Laktoferrin und Lysozym. Diese wirken einzeln nicht nur bakteriostatisch gegen allgemeine Krankheitserreger, sondern können in Kombination über einen bakteriziden Wirkmechanismus in der Mundhöhle das Wachstum kariesfördernder Mikroorganismen hemmen [Ekstrand & Zero, 2012]. Auch die in der Muttermilch enthaltenen IgA und IgG wirken gegen Streptococcus mutans, während Kalzium die Remineralisation der angegriffenen Zahnhartsubstanz fördert. Grundsätzlich enthält Muttermilch mit dem Kohlenhydrat Laktose ein Substrat, das von Streptococcus mutans metabolisiert werden kann. Da bei Spaltung dieser Disaccharid-Bindung aus Glucose und Galaktose nur wenig Energie frei wird, sinkt der pH-Wert im Mund jedoch viel weniger als beispielsweise bei der Spaltung von Saccharose. Die in Muttermilch enthaltene Laktose reduziert den Speichel-pH-Wert regelmäßig nicht unter den kritischen, Dr. Maren Mittelhammer, MHBA Maren.mittelhammer@ zahnmedizin-muc.de Foto: Loredana La Rocca
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