Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 3

zm Nr. 03, 01.02.2023, (108) 14 | TITEL aufgenommenen Nahrung, sondern wird erheblich durch die Mahlzeitenfrequenz beeinflusst [Makuch, 2014]. Sowohl bei nach Bedarf (ad libitum) gestillten als auch flaschengefütterten Säuglingen kommt es physiologischerweise tagsüber wie auch nachts phasenweise zu einer erhöhten Frequenz der Nahrungsaufnahme. Generell kommen multiple Studien zu dem Ergebnis, dass Stillen das ECCRisiko senkt [Paglia, 2015]. Wiederum ergibt sich in anderen Studien nächtliches, hochfrequentes Stillen ad libitum ab Beikost-Einführung beziehungsweise ab dem Alter von zwölf Monaten als Kariesrisikofaktor [Branger et al., 2019]. Die Co-Faktoren überdecken den positiven Einfluss Mitursächlich für ein erhöhtes ECCRisiko ab diesem Zeitpunkt sind wahrscheinlich zusätzliche, sehr individuelle Faktoren wie die Art der Beikost und die orale Hygiene. Diese „Co-Faktoren“ überdecken den (positiven) Einfluss des Stillens [Branger et al., 2019]. Ein Zusammenhang von ECC und über das erste Lebensjahr hinausgehendem Stillen ergibt sich „nur in […] zivilisierten Völkern durch sehr frühzeitige, den Eltern oft unbewusste Zuckerbelastung des Kindermundes“ [Zahnärztekammer Nordrhein, 2021]. Ernährung und Kleinkind-Ernährung unterscheiden sich in unterschiedlichen Ländern und Familien ebenso stark wie die Qualität der Mundhygiene-Maßnahmen. Sowohl bei Kindern wie auch bei erwachsenen Säugetieren kommt Karies erst seit Beginn der Sesshaftigkeit und des Ackerbaus häufiger vor — ebenso wie einige andere „moderne“ Infektionen und Erkrankungen [Hüttemann, 2010]. In der Konsistenz günstig für die Zahngesundheit ist bekanntermaßen pflanzliche Rohkost, saisonales Gemüse und Obst sowie allgemein eine wenig verarbeitete, ballaststoffreiche Ernährung. Dies gilt auch schon und vor allem für die Ernährung von Babys und Kleinkindern. Als Folge der nicht immer artgerechten Ernährung muss zwingend eine optimale Mundhygiene stattfinden, um kariöse Läsionen zu vermeiden. Auch und gerade bei (Langzeit-)gestillten Kindern ergibt sich hier ein Knackpunkt: In der Praxis zeigt sich, dass bei Eltern häufig große Unsicherheit über das richtige Zähneputzen bei ihren Kindern besteht. Gerade wenn es altersbedingt zu Compliance-Schwierigkeiten mit Kleinkindern kommt, fühlen sich viele Eltern überfordert und hilflos. Die verstärkte AusbildungundFortbildung imBereich Kinderzahnmedizin und Patientenführung kann Zahnärzten helfen, Barrieren abzubauen und Familien bei der Zahngesundheit noch besser zu unterstützen. Hierzu gehört auch ein Basiswissen in Ernährung und Stillen sowie das Wissen um die Einflüsse von Hilfsmitteln wie Schnullern und Saugern. Gesunde, reif geborene Kinder, die nach Bedarf gestillt werden, benötigen keinen Schnuller. Nicht nur kann ein (zu früh) eingesetzter Schnuller zu einer Fehlprägung auf das Material und einer Saugverwirrung führen, sondern Probleme mit der Gewichtszunahme des Säuglings hervorrufen beziehungsweise zu einem frühen Abstillen führen. Vor allemaber verleitet ein vorhandener Schnuller zu einem dauerhaften Gebrauch. Bei frühem, häufigem und langem Einsatz des Schnullers wird die Zunge dauerhaft aus ihrer physiologischen Ruhelage am Gaumen verdrängt und kann Normabweichungen wie Spitzgaumen, Septumdeviation, Mundatmung, viszerales Schluckmuster, erhöhtes Kariesrisiko und Zahnfehlstellungen begünstigen oder fördern [Ling et al., 2018]. In der Praxis sollte Eltern mit Blick auf diese Folgen ein maßvoller Umgang mit dem Schnuller ans Herz gelegt werden. Dies ist auch aus kieferorthopädischer und aus logopädischer Sicht zu befürworten [Furtenbach, 2013]. Die allgemeine Mundgesundheit in Deutschland hat sich über die vergangenen Jahrzehnte durch Wissenszuwachs, Prophylaxe und Präventivmaßnahmen stark verbessert. Die moderne Zahnmedizin steht für Prävention — und Stillen in den ersten Lebensjahren ist die beste Präventivmaßnahme für eine optimale orofaziale Entwicklung sowie für die Gesundheit von Zähnen und Kiefer [Agarwal et al., 2014]! Fazit ImErgebnis besagen alle Leitlinien und internationalen Empfehlungen, dass Stillen mindestens in den ersten sechs Lebensmonaten erhebliche Vorteile für die Entwicklung eines Kindes hat und daher empfohlen werden sollte. Die teils widersprüchlichen Studien zu den Zusammenhängen von Langzeitstillen und ECC deuten auf den weiterhin erhöhten Forschungsbedarf zu dieser Thematik, um eindeutige Empfehlungen zu erarbeiten. Hier zeigt sich zudem die Diskrepanz von Forschung und Erfahrung in der täglichen Arbeit als Kinderzahnarzt. Fälle von ECC bei gestillten Kindern mit typischer Lokalisation an den Glattflächen der OK-Frontzähne kommen in der Praxis vor und können nicht immer auf eine kariogene Beikost, eine unzureichende Mundhygiene oder fluoridfreie Zahnpasta zurückgeführt werden. Die vorgestellten Studien und die prozentuale Anzahl an ECC-Fällen bei gestilltenKindern inder Praxis verglichen mit ECC-Fällen aus anderen Gründen zeigen in toto aber auch, dass auch bei längerem Stillen und Langzeitstillen die gesamtkörperlich positiven Effekte im Vordergrund stehen. Größere Bedeutung zur Vermeidung von ECC in der Beikostphase haben demnach neben einer gesunden Ernährung und täglicher optimaler Mundhygiene mit Fluorid die Vermeidung von Schnullern und Saugern sowie der halbjährliche Zahnarztbesuch. Sowohl unter dem ganzheitlich medizinischen Aspekt als auch mit zahnmedizinisch-kieferorthopädischem Fokus profitieren gestillte Kinder in vielerlei Hinsicht, so dass auch eine Stillzeit über zwölf Monate hinaus unterstützt werden kann – idealerweise unter fachlicher Begleitung. ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.

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