zm113 Nr. 05, 01.03.2023, (324) 38 | GESELLSCHAFT In ihren Schriften „Physica“ und „Causae et Curae“ verband Hildegard ebenfalls bekanntes antikes medizinisches Wissen, empirische Ansätze einer Volks- und Kräutermedizin, mit der christlichen Heilslehre. So empfiehlt sie in „Causae et Curae“ bei Zahnschmerzen beispielsweise die Verwendung eines Brombeerstachels: „Der Brombeer ist mehr warm als kalt. Wer eine geschwollene oder geschwürige Zunge hat, mache mit Brombeer (stacheln) oder mit einer Lanzette kleine Einschnitte, ebenso bei Zahnschmerzen am Zahnfleisch“ [von Bingen, 1896/1897, 31] . Mit der Charakterisierung des Brombeers als „warm“ bezog Hildegard auch Ideen der gelehrten Medizin ein, deren entscheidendes Konzept im Mittelalter und bis in die frühe Neuzeit die Humoralpathologie blieb, die auf die antiken Autoritäten Hippokrates und Galen zurückgeführt wurde [Eckhart, 2017]. Gemäß dieser Vier-Säfte-Lehre wurde die Gesundheit von Menschen von einer individuellen Mischung der vier Säfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle bestimmt. Die Säfte waren mit bestimmten Organen, mit Qualitäten wie warm oder kalt, trocken oder feucht und mit bestimmten Charaktereigenschaften verbunden. Noch heute bekannte Bezeichnungen wie Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker beschreiben Personen, bei denen jeweils einer der Säfte vorherrscht. Ein Ungleichgewicht der Säfte, Verstopfungen oder Abflüsse konnten Auswirkungen auf den Körper oder einzelne Organe haben und so zu Krankheit führen, ebenso ging man davon aus, dass mit der Nahrung aufgenommene Krankheitsmaterie gelegentlich nicht ausreichend ausgeschieden wurde und deshalb durch ausleitende Verfahren abgelassen werden musste, zum Beispiel durch Schwitzkuren, Aderlass, Einläufe oder Brechmittel [Stolberg, 2021, 129-150]. Während in Norditalien Anatomie und Chirurgie bereits im 15. und 16. Jahrhundert fester Bestandteil des Medizinstudiums waren, hielt sich im deutschsprachigen Raum die Trennung zwischen akademisch ausgebildeten Ärzten auf der einen Seite und handwerklich ausgebildeten Badern, Barbieren und Wundärzten auf der anderen Seite deutlich länger. Zu den Gründen dafür zählt der Medizinhistoriker Michael Stolberg zum einen die Furcht der Ärzte, die „handwerklichen Aspekte der Chirurgie könnten ihrer Würde als Gelehrte abträglich sein“ [ebd. 86]. Zumanderenwaren die Barbiere und Wundärzte in vielen Städten in Zünften organisiert, die ihnen das „Behandlungsmonopol in chirurgischen Fällen, auch gegenüber studierten Ärzten“ [ebd.] garantierten. WährenddieBaderschwerpunktmäßigBadestubenbetrieben, wo die Besucher Bäder und Schwitzkuren durchführen sowie sich schröpfen lassen konnten, suchten Barbiere ihre Kunden häufig auch zu Hause auf – ebenso, wie es Ärzte in der Regel taten. Zu ihremAngebot gehörten neben dem Schneiden von Haaren und dem Rasieren kleinere chirurgische Eingriffe und der Aderlass [Naef, 1994, 18-20; Stollberg, 2021, 491496,]. Im Bereich der Zahnbehandlung wurden faule Zähne mit dem Brenneisen ausgebrannt und manchmal mit Gold, häufiger mit Amalgam, gefüllt. Noch üblicher war jedoch die Extraktion fauler Zähne – oder zumindest der Versuch. Die Patienten ließen sich von den Wundärzten auch die Zunge schaben. Im Sinne der Humoralpathologie ging man davon aus, dass das Gehirn ein Übermaß an Schleim produzieren konnte – etwa im Zuge einer Erkältung –, der durch Abhusten, Ausspucken oder eben Zungenschaben entfernt werden sollte. Das Instrument wurde auch auf Siegeln und Aushängeschildern gezeigt [Widmann/Mörgeli, 1998, 118-120]. Mit Regenwürmern gegen den Zahnwurm Zahnschmerzen wurden im 16. Jahrhundert durch das Einnehmen betäubender Substanzen zum Teil symptomatisch behandelt. Dazu zählten Branntwein und bei starken Schmerzen Opium, das lokal aufgetragen oder eingenommen wurde. Mund und Zähne wurden gespült, etwa mit einer Mixtur aus Essig und Salz oder dem Urin von Menschen oder Pferden. Im System der Humoralpathologie konnte auch durch Aderlass, Schröpfen oder Reizen der Haut Krankheitsmaterie abgelassen werden, die als ursächlich für den Zahnschmerz angesehen wurde. Schließlich wurden Behandlungsmethoden eingesetzt, um den Zahnwurm, der nach dem Volksglauben für Zahnfäule verantwortlich war, herauszulocken und zu töten. Hierzu gehörte das Inhalieren von Rauch, der bei der Verbrennung einer Mixtur aus gerösteten Blasenkirschen und Wachs entstand, oder das Einnehmen von pulverisierten Regenwürmern, die gemäß dem Ähnlichkeitsprinzip gegen den Zahnwurm wirken sollten. Gänzlich auf magischem Denken fußte die Empfehlung, mit dem Zahn eines Toten einen schmerzenden Zahn zu berühren, damit dieser ausfällt. Ausdrücklich gewarnt wurde jedoch davor, versehentlich einen gesunden Zahn zu berühren [Stolberg, 2021, 302-307]. Abb. 2: Statue der Hildegard von Bingen in Bingen am Rhein Foto: SiRo - stock.adobe.com
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