zm113 Nr. 05, 01.03.2023, (345) GESELLSCHAFT | 59 „SOLANGE IN DER HEIMAT GESTORBEN WIRD, KOMMEN AUCH WIR NICHT ZUR RUHE“ Der ukrainisch-stämmige Zahnarzt Dimitri Schulz aus Stuttgart reagierte geschockt auf den Kriegsbeginn in seinem Heimatland und organisierte humanitäre Hilfe. Von den ersten Tagen des Krieges berichtete er in der zm 06/2022 – jetzt, ein Jahr später, schwankt er noch immer zwischen Hoffnung und Fassungslosigkeit: „Ich blicke auf ein in jeder Hinsicht hartes Jahr zurück. Seit dem 24. Februar 2022 hat sich unser Leben verändert. Es bleibt ein bitterer emotionaler Schatten auf der Seele. So lange in der Heimat gestorben wird, kommen auch wir nicht zur Ruhe. Über unseren Verein 'Ukrainisches Atelier für Kultur und Sport' gingen rund 300.000 Euro an Spendengeldern ein – nicht gezählt sind unsere Privatausgaben. Nach dem hektischen Kriegsbeginn und der quälenden Hoffnungslosigkeit gab es nach den militärischen Erfolgen einen Hoffnungsschimmer für die Ukraine. Anschließend begannen die Bombardierungen der energetischen und ziviler Infrastrukturen. Der russische Terror. Erst vorgestern schlug im Einfamilienhaus unserer Freunde eine Rakete im Dach ein. Ein Glück, dass sie nicht detonierte. Konstantin, Alexandra und der dreijährige Albert überlebten diese Nacht. Alexandra ist die Patentante meiner Tochter, meine Frau wiederum deren Trauzeugin. Es geht uns sehr nah. Meine Schwiegereltern sind nach wie vor bei uns. Deren Haus blieb verschont, als eine Rakete unweit in ein Mehrfamilienhaus in Dnipro einschlug und 46 Menschenleben kostete. Über 80 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Unser Engagement in Stuttgart war anfänglich humanitär: Medikamente, Verbandsmaterial, Beatmungsgeräte, warme Kleidung etc. brachten wir in die Ukraine. Die Logistik erfolgte in Eigenregie.Wir akquirierten Fahrzeuge von Freunden oder bekamen welche gesponsert von der Autovermietung. Später organisierten wir ganze 40-TonnerLKWs und lieferten an die Front. Wir konzentrierten uns dabei hauptsächlich darauf, die Armee zu unterstützen und lieferten direkt in die Schützengräben: Generatoren, Heizungen, Drohnen, schusssichere Westen, Thermokleidung und vieles mehr. Mit unserer ukrainischen Fußballmannschaft organisierten wir wöchentlich Trainings für Flüchtlingskinder. Wir kauften Fußballschuhe und Sportkleidung, wir halfen, die kleinen Fußballer in Vereinen unterzubringen und übernahmen die Kommunikation. Parallel war ich das ganze vergangene Jahr auch noch mit dem Umzug meiner Praxis beschäftigt, der nun Anfang März stattfinden soll. Ich erinnere mich genau an ein Jahr zuvor, an den 24. Februar 2022, als ich auf der Baustelle der neuen Praxis zusammen mit den Planern, Bauleitung und Vermieter zusammensaß und meine Frau mir schrieb, dass die Russen gerade großflächig die Ukraine angreifen. Ich weinte bittere Tränen. Dies ist einer der Momente im Leben, die sich für immer einbrennen ins Gedächtnis. Dazu kam auch noch, dass ich zusammen mit Freunden 2021 ein Start-up gründete. Wir entwickelten die App 'nspire', um Menschen in ihrer Freizeitgestaltung zu inspirieren. Wir gingen damit im September 2022 in die AppStores und sind nach wie vor damit beschäftigt, die nächste Version zu programmieren und die App bekannt zu machen. Da ich unter den Ukrainern in Stuttgart als Zahnarzt bekannt bin, wurde ich quasi überlaufen mit Patienten. Also richtete ich den Samstag als Arbeitstag ein, an dem ich seitdem Kompositfüllungen und ähnliche Leistungen zuzahlungsfrei erbringe. Es kam alles zusammen in 2022! Die ukrainische Diaspora versucht weiterhin, wo immer es möglich ist, die Menschen in Deutschland daran zu erinnern, dass das Leben hier zwar weitergeht, aber in der Ukraine tagtäglich Menschen sterben, in Bunkern ausharren oder gar russische Besatzung ertragen müssen. Wir freuen uns in Deutschland darüber, dass das 'Leben vor Corona' wieder zurückkehrt, planen unsere Urlaube und gehen aus. In der Ukraine gibt es nach wie vor nur stundenweise Strom, die Kinder können nicht in die Schule gehen oder zum Sport. Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass es für uns schwer zu verstehen ist, warum die Politik so zögerlich reagiert. Es wird debattiert und diskutiert. Dann wird der Ukraine unterstellt zu 'fordernd' zu sein. Was muss noch kaputtgehen? Wie viele sollen noch sterben? Wie viele Kinder sollen noch verschleppt werden? Beste Grüße aus Stuttgart und Slava Ukraini!“ Hilfsgüterlieferung in Eigenregie Ukrainische Kinder kicken in der Diaspora Fotos: privat, AdobeStock – wolcan/Dimitri Schulz Zahnarzt Dimitri Schulz, St. Pöltener Str. 68, in 70469 Stuttgart
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