Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 6

zm113 Nr. 06, 16.03.2023, (436) 38 | ZAHNMEDIZIN gesprochen werden: 2,6 Prozent aller Feten/Neugeborenen weisen eine sogenannte grobstrukturelle („große“) Fehlbildung auf [European platform on rare disease registration, 2023]. Aber nur ein kleiner Teil (zwei bis vier Prozent) aller angeborenen Fehlbildungen kann eindeutig einer chemischen oder physikalischen Ursache zugeschrieben werden, wozu auch die Einnahme von Medikamenten in der Schwangerschaft gehört [Rösch und Steinbicker, 2003]. Die Empfindlichkeit des menschlichen Embryos/Fetus auf Noxen hängt sehr stark vom kindlichen Entwicklungsstadium ab. Üblicherweise werden folgende Abschnitte unterschieden [Paulus, 2011] (Abbildung 1): „ 1. Präimplantationsphase: Die ersten sechs Tage nach der Befruchtung, während derer die menschliche Anlage durch die Tuba uterina transportiert und nicht direkt von Substanzen im mütterlichen Blut erreicht wird, sind durch das „Alles-oder-nichts“-Prinzip gekennzeichnet, das heißt erfolgte Schäden werden entweder repariert oder die Frucht wird abgestoßen. Das Fehlbildungsrisiko ist in diesem Stadium extrem gering, jedoch können Medikamente gegebenenfalls auf die Nidation (Einnistung) und die Plazentation (Ausbildung der frühen Plazenta) Einfluss nehmen und Störungen im mittleren und im letzten Trimenon bewirken. „ 2. Embryonalzeit (2. Woche bis 10. Woche nach der Befruchtung): In dieser Phase der Organogenese ist die Sensibilität gegenüber exogenen Noxen am größten und es werden die meisten Fehlbildungen und Aborte ausgelöst. „ 3. Fetalperiode (ab 11. Woche nach der Befruchtung oder 13. Woche nach der letzten Menstruation): In dieser Zeit nimmt die Empfindlichkeit der Frucht gegenüber exogenen Noxen langsam ab. Schwerwiegende Funktionsstörungen der kindlichen Gewebe sind trotzdem möglich (zum Beispiel Störung der Dentition und des Knochenwachstums beim Einsatz von Tetrazyklinen [Rendle-Short, 1962]). Arzneimittelbedingte Schäden in der Frühphase der Schwangerschaft sind weder für die Patientin noch für den behandelnden Zahnarzt vorhersehbar. Somit gilt weiterhin die Sichtweise erfahrener Gynäkologen: Eine Frau im reproduktionsfähigen Alter ohne Einnahme von Antikonzeptiva ist immer potenziell schwanger [Balogh, 2010]. Die gravierendsten Veränderungen des mütterlichen Organismus betreffen das Herz-Kreislauf-System und die Niere und werden damit auch für den Zahnarzt relevant. Die Blutmenge steigt im Verlauf der Schwangerschaft an und das Herz vergrößert sich. Herzschlagvolumen sowie Puls nehmen zu und lassen die Herzleistung ab der 11. SSW (Schwangerschaftswoche) um mehr als 50 Prozent steigen [Giglio et al., 2009]. Diese kardiovaskulären Anpassungsvorgänge bedingen eine veränderte Pharmakokinetik: Durch die steigende Blutmenge, den erhöhten Kapillardruck und den um bis zu 35 Prozent höheren Wasseranteil im Körper werden hydrophile Medikamente (zum Beispiel Amoxicillin) schneller im Gewebe verteilt und damit verdünnt. Dieser Effekt wird durch die Erhöhung des renalen Blutflusses und der glomerulären Filtrationsrate um circa 50 Prozent noch erhöht [Andrew et al., 2007; Hebert, 2013; Nauheimer, 2012] (Abbildung 2). Um die passende Plasmakonzentration bei einer erhöhten Clearance zu erreichen, sind damit vor allem in der Spätschwangerschaft Unterdosierungen zu vermeiden, indem Korrekturen der Dosis oder des Dosisintervalls vorgenommen werden [Constantine, 2014; Mylonas et al., 2011]. Im Gegensatz dazu sollten Medikamente, die sich an Plasmaproteine binden und dadurch pharmakologisch inaktiv werden (zum Beispiel Lokalanästhetika), durch die reduzierte Konzentration von Serumalbumin und anderer wirkstoffbindender Proteine bei den Patientinnen in geringerer Dosis eingesetzt werden [Constantine, 2014; Oanounou und Haas, 2016]. Antibiotika Neben chromosomalen Anomalien und immunologischen Erkrankungen gehören Infektionen besonders in der Frühschwangerschaft zu den häufigsten Gründen für Fehlgeburten [Mylonas, 2011]. Bei Schwangeren stellt eine Infektion im Kiefer- und Gesichtsbereich stets eine ernst zu nehmende Situation dar, die adäquat behandelt werden muss. In einem aktuellen Review zu schweren odontogenen InfekMERKMALE VON SCHWANGEREN MIT SCHWEREN ODONTOGENEN INFEKTIONEN Merkmale der Stichprobe Anteil Schwangerschaftsabschnitt 1. Trimenon 7,3% 2. Trimenon 24,6% 3. Trimenon 68,1% Ausgangspunkt der odontogenen Infektion Weisheitszahn 23% 1. Molar 8,7% 2. Molar 7,3% Prämolaren 7,3% Chirurgische Behandlung Extraorale Inzision 80% Anästhesieform Allgemeinnarkose 21,2% Lokalbetäubung 78,8% Unerwünschte Ereignisse (Auswahl) Frühgeburt 4,3% Tod des ungeborenen Kindes 13% Tod der Mutter 5,8% Tab. 1: Merkmale der untersuchten Stichprobe von schwangeren Patientinnen mit schweren odontogenen Infektionen, Quelle: mod. nach Pucci et al., 2021

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