Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 7

54 | GESELLSCHAFT GESCHICHTE DER ZAHNHEILKUNDE IN DER VOR- UND FRÜHGESCHICHTE Kariesbehandlung bereits in der Steinzeit Julia Nebe, Matthis Krischel Zahnleiden und Zahnschmerzen sind so alt wie die Menschheit selbst. Bereits in der Altsteinzeit, also bereits vor dem Jahr 10.000 vor unserer Zeit, taten Zahnbehandler das, wovor sich Patienten auch heute noch am meisten fürchten: Sie bohrten. Ohne Narkose. Im Jahr 2006 berichteten Archäologen im Fachmagazin „Nature“ von Funden auf einem neolithischen Friedhof in Mehrgarh, Pakistan. Sie wiesen nach, dass dort zwischen 9000 und 7500 vor unserer Zeit Zahnbehandlungen an Patienten durchgeführt wurden. Die Löcher hatten zum Teil eine Tiefe von bis zu 3,5 Millimetern [AP/ DPA, 2006]. Von den insgesamt elf gebohrten Zähnen, die neun Menschen gehörten, wiesen mindestens ein Drittel entsprechende Maßnahmen auf, die mit Karies verbunden waren. Auch an jüngeren Zähnen aus dem gleichen Fundgebiet identifizierten die Forscher Zahnkaries. Bohrspuren, die auf Behandlungen hinweisen, finden sich jedoch nur für den Zeitraum von 1.500 Jahren [Coppa/Bondioli/Cucina et al., 2006, 755]. Auch wie von Menschenhand damals Löcher in die Zähne gekommen sein könnten, versuchte das internationale Team um Roberto Macchiarelli herauszufinden. Prototypische Bohrer, bestehend aus einem Bogen, kannte man bereits von den Relieffragmenten aus dem Grab des Ti (2400 vor unserer Zeit) in der altägyptischen Nekropole von Sakkara oder aus dem Grab des Rekhmire (1500 vor unserer Zeit) in Theben (Abbildung 1). Die älteste Kariesbehandlung liegt über 14.000 Jahre zurück Dort waren es mutmaßlich Schreiner, die mit solchen Bohrern auch chirurgische zahnmedizinische Maßnahmen durchführten [Hoffmann-Axthelm, 1973, 23]. Von ethnografischen Quellen inspiriert trieben auch die französischen Forscher einen aus Feuerstein gefertigten „Bohrer“ mit einem kleinen Bogen, der zu neolithischer Zeit zur Zierperlen-Herstellung verwendet worden war, in einen Zahn. Das Ergebnis verblüffte nicht nur das Forscherteam: Ihm war es gelungen, binnen weniger als einer Minute Bohrlöcher herzustellen. Da war der Beweis, dass bereits ab 9000 vor unserer Zeit die Menschen in der Lage waren, adäquate Löcher in die Zähne zu bohren [AP/DPA, 2006; Coppa/Bondioli/Cucina et al., 2006, 755]. Es gibt sogar noch ältere Hinweise auf das Bohren menschlicher Zähne in vivo. Die wohl älteste heute bekannte Kariesbehandlung liegt mindestens 14.000 Jahre zurück: In den Bergen der nördlichen Toskana wurden in der Felshöhle von Riparo Villabruna Zähne von sechs Menschen aus dem Spätpaläolithikum entdeckt, die auf eine Kariesbehandlung hindeuten. Mithilfe eines Rasterelektronenmikroskops (REM) fanden sich markante Markierungen wie Absprengungen und Rillen an der Zahnhartsubstanz, die von Instrumenten stammen: von Mikrolithen – kleinen steinzeitlichen Klingen oder Spitzen von bis zu 3 cm Länge [Senckenberg / CS, 2017]. Anscheinend hatte der spätpaläolithische Behandler erst das Loch um die Kavität erweitert, um im Anschluss die verfallende Zahnsubstanz herauszukratzen. Verschlossen wurde das Loch mit einer Mischung aus Bitumen, das in dieser Zeit bereits als Klebstoff für Werkzeuge oder Abdichtungsmaterial verwendet wurde, sowie mit Haar- und Pflanzenresten [Oxilia/Fiorillo/Boschin et al., 2015, 9, 11; Boëdas/Bonilauri/Connan et al., 2008, 854; Boëdas et al., 1996; Carciumaru et al., 2012; Franz, 2017]. Plombiert wurde bereits in der Steinzeit Eine frühe Variante einer Zahnfüllung förderten archäologische Ausgrabungen in Slowenien zutage: Die etwa 6.500 Jahre alte Füllung aus Bienenwachs wurde dort zu Beginn der 2010er-Jahre in einem fraktionierten Eckzahn entdeckt und lieferte den bis dahin ältesten Beweis für eine prähistorische Zahnheilkunde in Europa und damit das bisher früheste bekannte Beispiel für therapeutische Zahnfüllungen [Coppa/Bondioli/Cucina et al., 2006; Bernardini/Tuniz/Coppa et al., 2012; Current World Archeology, 2012]. Der Einsatz von Bitumen als Füllungsmaterial zu einem viel früheren Zeitzm113 Nr. 07, 01.04.2023, (548) Dr. Matthis Krischel, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf Foto: privat Julia Nebe, M.A. Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf Foto: privat

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