GESELLSCHAFT | 55 Abb. 1: Der Handwerker links fädelt Perlen auf eine Kette, der Handwerker rechts bohrt zur Vorbereitung Löcher in die Perlen. Die Darstellung ist eine von Nina de Garis Davies (1881–1965) hergestellte Reproduktion des Originals, das sich im Grab des Rekhmire (1500 vor unserer Zeit) befindet. Foto: Open access punkt markierte daher in jedem Fall ein Novum für die Wissenschaftler. Man vermutet, dass die zähflüssige dunkle Masse entweder als Antiseptikum oder als eine Art antibakterielle Barriere verwendet wurde [Oxilia/Fiorillo/Boschin et al., 2017, 13]. Kau- und Abnutzungsspuren weisen darauf hin, dass der Zahn auch nach seiner Behandlung normal benutzt werden konnte, was auf eine äußerst effektive Behandlung schließen lässt. Interessant ist aber nicht nur, dass bereits erste Eingriffe an kariösem Zahngewebe in Spätpaläolithikum durchgeführt wurden, sondern dass die Menschen zu dieser Zeit überhaupt wussten, „dass von Karies befallene Zähne behandelt werden müssen, indem infiziertes Gewebe entfernt und Löcher im Zahn gereinigt werden“, betonte Dr. Stefano Benazzi von der Universität Bologna, einer der Hauptautoren der Studie zu den Funden in Villabruna [Senckenberg / CS 2017]. Selbst der Homo erectus benutzte Zahnstocher Instrumente und Behandlungstechnik entlehnten die Menschen auch schon zu dieser Zeit ihrer Alltagspraktik. So lässt sich die Entfernung von Essensresten mithilfe von Sonden aus Holz oder Knochen, das heißt Zahnstocherähnlichen Werkzeugen, bereits mit Beginn der Gattung Homo nachvollziehen. So reinigte die „frühe Verwandtschaft des Menschen“ [Kauner, 2015] vom Homo erectus bis zu den Neandertalern ihre Zähne und Zahnspalten mit eben solchen Zahnstochern. Es liegt nahe, dass zum Zweck schabender oder hebelnder Behandlung von kranken und schadhaften Zähnen im Fall der „Villabruna-Zähne“ vorhandene Kenntnisse oder Gewohnheiten aus dem Alltag einfach weiterentwickelt wurden [Lozano/Subirà/Aparicio et al., 2013; Ricci/ Capecchi/Boschin et al., 2014; Senckenberg / CS, 2017]. Bis zur breiten Akzeptanz der Zahnbürste blieb der Zahnstocher das wichtigste Werkzeug zur Mundhygiene. Dies erklärt auch, warum etwa der kunstaffine Zahnarzt Hans Sachs eine Sammlung von Zahnstochern anlegte [Krischel, Nebe, 2022b; Halling/Krischel, 2020]. Die Funde revolutionierten somit nicht nur das wissenschaftshistorische Gefüge, sondern konterkarieren darüber hinaus die zuvor anerkannte Logik. Denn lange war man davon überzeugt, dass die Entwicklung einer Protozahnmedizin erst mit dem Beginn der Sesshaftigkeit der Menschen ihren Anfang genommen hat. Erhöhte sich doch mit dem Aufkommen der Landwirtschaft der Konsum von Kohlenhydraten in Form von Getreide sowie anderen zuckerhaltigen Nahrungsmitteln, beispielsweise Honig [Mayerhofer/Pirquet von Cesenatico 2013, 1045; AP/ DPA, 2006]. Die schmerzhafte Konsequenz: ein dramatischer Anstieg von Karies. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse legen jedoch nahe, dass die in Riparo Villabruna gefundenen Zähne aus einer Zeit stammen, in der eine Migrationswelle aus dem Osten ins heutige Italien schwappte. Die in diesem Zusammenhang mitgebrachten Nahrungsmittel und die darauf beruhende Umstellung der Ernährung könnten daher schon zu einem viel früheren Zeitpunkt zur Notwendigkeit und Entwicklung zahnheilkundlicher Maßnahmen geführt haben als bisher angenommen [Müller, 2019; Oxilia/Fiorillo/Boschin et al., 2017]. Der Idee, dass die Manipulationen an der Zahnhartsubstanz aus rein ästhetischen Gründen vorgenommen wurden, stehen die Forscher weitgehend kritisch gegenüber. Sie gehen davon aus, dass man mit der Verwendung von Bitumen gezielt den Zahnverfall verlangsamen wollte und es somit einer rein therapeutischen beziehungsweise zm113 Nr. 07, 01.04.2023, (549)
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