78 | GESELLSCHAFT ERINNERUNG IN ZAHNÄRZTESCHAFT UND GESELLSCHAFT Zur Aufarbeitung der Zahnmedizin im Nationalsozialismus Matthis Krischel, Julia Nebe Die Aufarbeitung der Zahnmedizin im „Dritten Reich“ startete zeitgleich mit der Medizin in den 1980ern, wobei die Auseinandersetzung mit den Verfolgten generell früher begann als die mit den Tätern. Als ab den 1990er und 2000er Jahren Standesorganisationen Aufträge für unabhängige Forschung vergaben, war die Zeit dafür in der Zahnmedizin noch nicht reif. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Alliierten eine juristische Bearbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, zu deren bekanntesten Startpunkten der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945 bis 1946 und im Bereich der Medizin der Nürnberger Ärzteprozess (1946 bis 1947) gehörten. Dabei war die Wahl des Verhandlungsorts nicht zufällig. Neben pragmatischen Gründen war es auch die faktische und symbolische Bedeutung Nürnbergs als „deutscheste aller Städte“ [Kosfeld, 2001], die die Stadt der Reichsparteitage als Ort der Prozesse angemessen erscheinen ließ und diesen gleichzeitig zusätzliche Wirkmacht verlieh [Krischel/Halling, 2020]. Ab Ende der 1950er Jahre folgten weitere Prozesse, von denen viele sich mit den Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern befassten. Besonders große Aufmerksamkeit erhielten hier die vom Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) angestrengten Frankfurter Ausschwitzprozesse (1963-1965). Während im Nürnberger Ärzteprozess keine Zahnärzte unter den Angeklagten gewesen waren, gerieten sie nun mit dem Lagerzahnärzten Willy Frank (1903-1989) und Willi Schatz (19051985) in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Beiden wurde vorgeworfen, an der „Selektion“ von Häftlingen zur Ermordung teilgenommen zu haben. Während Frank wegen Beihilfe zum Mord in 6.000 Fällen zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, sprach man Schatz aus Mangel an Beweisen frei [Schwanke/Groß, 2020]. Durch die Analyse von Fotos gilt heute als erwiesen, dass auch Schatz an „Selektionen“ teilnahm [Hördler et al., 2015]. Die Beschäftigung mit Tätern und Verfolgten unterlag ebenfalls durch Politik und Gesellschaft ausgelösten Konjunkturen. Auf die initiale Phase der juristischen Aufarbeitung unmittelbar nach Kriegsende folgte zunächst eine Integration aller nicht maximal belasteten Personen. Viele Männer, die erst einige Jahre nach 1945 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, wurden pauschal entnazifiziert, und Personen, die als Flüchtlinge oder Vertriebene bereits vor dem 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst gestanden hatten, bekamen das grundsätzliche Recht auf Wiederanstellung an einer geeigneten Stelle [Sprockhoff/Fischer, 2015]. Auch in vielen (zahn-)medizinischen Fach- und wissenschaftlichen Gesellschaften kam es zu Kontinuitäten. In der Deutschen Gesellschaft für Urologie konnte etwa Hans Boeminghaus (1893-1979) – Mitglied der NSDAP und SS ab 1933 und Mitverfasser eines Lehrbuchs zur chirurgischen Sterilisation und Kastration 1934 – in den Jahren 1948 und 1951 als Kongresspräsident reüssieren [Krischel, 2014]. Hermann Euler (1878-1961) – ab 1937 Mitglied der NSDAP und 1934 als Dekan der Medizinischen Fakultät in Breslau entscheidend für die Entlassung jüdischer und jüdischstämmiger Mitarbeiter:innen verantwortlich – war seit 1928 Präsident der DGZMK und blieb es bis 1954 [Groß, 2020]. Loyalitäten in Medizin und Zahnmedizin Während mit der 68er-Generation mehr kritische Nachfragen nach Handlungsspielräumen im Nationalsozialismus und Karrierekontinuitäten gestellt wurden, waren die Medizin und Zahnmedizin noch länger von Loyalitäten zu den vor 1945 aktiv im Beruf stehenden Personen gegenüber geprägt. Erst zm113 Nr. 09, 01.05.2023, (768) Dr. Matthis Krischel Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf Foto: privat M.A. Julia Nebe Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf Foto: privat
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