GESELLSCHAFT | 79 das Ausscheiden der belasteten Generationen selbst – und in einigen Fällen sogar erst das Ausscheiden ihrer direkten Schülergeneration – machte den Weg für eine kritische Geschichtsschreibung frei [Krischel/Halling, 2020]. So benannte die Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik nach dem Tod Hans Nachtsheims (18901979) einen Preis nach ihm. Nachtsheim war vor 1945 Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik gewesen, hatte sich dort aber schwerpunktmäßig mit Forschung am Tiermodell beschäftigt und war als einer von wenigen führenden Biowissenschaftlern seiner Generation nicht der NSDAP beigetreten. In der Nachkriegszeit wurde er zunächst Professor für Genetik an der Humboldt-Universität und nach ihrer Gründung an der Freien Universität Berlin. Gleichzeitig lehnte er aber die Entschädigung vom im Nationalsozialismus zwangssterlisierten Personen mit dem Argument ab, das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sei kein nationalsozialistisches Unrechtsgesetz gewesen und sprach noch 1963 von einer „Pflicht zur praktischen Eugenik“. Dieses Engagement Nachtsheims wurde durch einen Preisträger in den 1980er Jahren öffentlich thematisiert, in der Folge wurde der Preis nicht mehr vergeben [Krischel et al., 2021]. Erinnern an Verfolgung und Verfolgte Die Beschäftigung mit im Nationalsozialismus verfolgten, vertriebenen und ermordeten Personen begann früher als die mit den belasteten. Einige medizinische Fachgesellschaften – darunter die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) – suchten bereits Anfang der 1950er Jahre wieder Kontakt zu vertriebenen, ehemaligen Mitgliedern. So nahm die DGU 1953 Leopold Casper (1859-1959) und Paul Rosenstein (18751964) als Ehrenmitglieder auf, die nach New York beziehungswiese Rio de Janeiro geflüchtet waren. Beide veröffentlichten Autobiografien, die ihre erinnerungskulturelle Position stärken sollten [Krischel, 2014]. In der Zahnmedizin wurde bereits in den 1960er Jahren an den nach New York emigrierten Hans Sachs (18811974) erinnert. Sachs war in Berlin als niedergelassener Zahnarzt tätig gewesen und erhielt 1933 für seine Arbeit „Grenzen der Zahnerhaltung bei Parandontose“ den Miller-Preis. 1934 wurde ihm als Juden die Kassenzulassung entzogen. Unmittelbar nach den Novemberpogromen 1938 und einer Inhaftierung im Konzentrationslager Sachsenhausen floh Sachs aus Deutschland. In den USA legte er im Alter von 60 Jahren das amerikanische Staatsexamen ab und erhielt die Approbation. Neben seiner zahnärztlichen Tätigkeit war Sachs auch bedeutender Sammler von Plakatkunst: Seine Sammlung umfasste mehr als 30.000 Plakate und Gebrauchsgraphiken [Halling/Krischel, 2020]. Erinnert wurde Sachs im Nachkriegsdeutschland, weil er 1966 in den Zahnärztlichen Mitteilungen eine Serie von drei familienbiografischen Artikelnveröffentlichte, in denen er nicht nur die Lebensgeschichten seines Großvaters und Vaters – beide ebenfalls Zahnärzte –, sondern auch seine eigene Emigrationsgeschichte erzählte [Sachs, 1966]. In der Folge wurde zu seinem 90. Geburtstag in den Zahnärztlichen Mitteilungen eine Laudatio auf ihn veröffentlicht [ZM, 1971]. Ein Erinnern an Casper, Rosenstein oder Sachs gelang in den 1950er und 1960er Jahren jedoch nur, weil sie die Judenverfolgung überlebt hatten und nach dem Krieg in den Austausch mit zm113 Nr. 09, 01.05.2023, (769) Seit Beginn der 1980er Jahre entstanden in Ost- und Westdeutschland die ersten Analysen zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus. Foto: zm-mg ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.
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