Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 9

80 | GESELLSCHAFT ihren in Deutschland zurückgebliebenen Kollegen treten konnten. Weniger prominente Überlebende und die meisten Ermordeten fielen zusätzlich einer Damnatio Memoriae zum Opfer, das heißt, sie wurden vergessen, aus der Geschichte herausgeschrieben und die Erinnerung an sie wurde verschüttet [Voswinkel, 2004]. Abgesehen von wenigen Vorarbeiten erschienen erst ab den 1990er Jahren systematische, zunächst regionalhistorische Arbeiten, die die von Verfolgung betroffenenPersonen systematisch erfassten und an sie erinnern wollten [Schwanke/Krischel/Groß, 2016, S. 13]. Konflikte bei der Geschichtsschreibung Seit Beginn der 1980er Jahre befasst sich die professionelle Medizingeschichte mit der Medizin im Nationalsozialismus [Jütte, 2012, S. 311ff]. Wegweisend war dabei eine Serie von Artikeln im Deutschen Ärzteblatt, die im Anschluss auch als Buch erschien [Bleker/Jachertz, 1989]. Zeitgleich entstanden in Ost- und Westdeutschland die ersten Analysen zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus [Schwanke/ Krischel/Groß, 2016, S. 6-12]. In der Bundesrepublik ging die Forschung maßgeblich von der 1978 gegründeten Vereinigung Demokratische Zahnmedizin e. V. (VDZM) aus, die bereits 1983 einen Zeitschriftenband zum Thema vorlegte [VDZM, 1983]. Die Vereinigung blieb bis in die 2010er Jahre aktiv, weitere Veröffentlichungen aus ihrem Umfeld folgten [Kirchhoff, 1987; Guggenbichler, 1988; Kirchhoff/ Heidel, 2016] und auf ihrer bis etwa 2020 aktiven Internetseite sammelte die VDZM biografische Daten zu verfolgten Zahnärzt:innen. Diese Daten stammten in vielen Fällen aus (zahn-) medizinischen Doktorarbeiten, die auf lokaler Ebene der Verfolgung nachgingen. Hier gilt der Berliner Zahnarzt Michael Köhn als Pionier [Köhn, 1994]. Trends der Aufarbeitung Gewisse Konflikte zwischen den zahnärztlichen Standesorganisationen und der VDZM wurden offenbar, als 1998 ein Sonderheft der Zahnärztlichen Mitteilungen erschien [BZÄK et al., 1998]. Die überwiegende Zahl der Beiträge in dem Heft stammte vom zmRedakteur Ekkhard Häussermann, der zum einen Aufklärungsarbeit über die Zeit des „Dritten Reiches“ leistete, zum anderen aber auch die VDZM und ihre gesundheitspolitischen Positionen angriff [Schwanke/Krischel/Groß, 2016]. Einige Jahre zuvor hatte auch Michael Köhn die Erfahrung gemacht, dass die Akzeptanz einer kritischen Aufarbeitung in den 1990er Jahren innerhalb der Zahnmedizin noch erkämpft werden musste. So wurde ihm 1991 für seine Recherchen der Zugang zum Archiv des Forschungsinstitut für Geschichte und Zeitgeschichte der Zahnheilkunde in Köln verwehrt [Krischel/Nebe, 2022]. In den 2000er Jahren hatte sich die Situation in der Medizin bereits deutlich geändert. Nach und nach begannen Universitäten, medizinische Fakultäten und Fachgesellschaften, ihre NSVergangenheit aufzuarbeiten. Bereits im Jahr 2000 erschien eine Studie zu entrechteten, geflohenen und ermordeten Kinderärzten [Seidler, 2000], es folgten zahlreiche weitere. Mitte der 2010er Jahre war es sogar schon möglich, die unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen miteinander zu vergleichen [Krischel/Schmidt/Groß, 2016]. Dabei stellte sich heraus, dass etwa der Anteil als jüdisch klassifizierter Mitglieder in einigen Fachrichtungen besonders hoch war (Kinderheilkunde, Dermatologie, Urologie), und dass die Gleichschaltungsprozesse unterschiedlich schnell verliefen. Die meisten Fachgesellschaften hatten zuerst ihrer vertriebenen und ermordeten Mitglieder gedacht, sukzessive wurde nun auch die Täterforschung akzeptiert – vielleicht, weil auch für die Mitglieder der Vorstände der Fachgesellschaften zu dieser Zeit der Nationalsozialismus keine persönliche, sondern eine historische und seine Aufarbeitung zunehmend eine professionspolitische Angelegenheit war. Zuletzt erlebt die „Täterforschung“ in der (Zahn-)Medizingeschichte einen Aufschwung [Rauh et al., 2022]. Auch im neuen Jahrtausend gehen Trends der Aufarbeitung in der Medizin und der breiteren Gesellschaft Hand in Hand. Beispielhaft dafür ist die 2010 veröffentlichte, medial breit rezipierte Studie zum Auswärtigen Amt [Conze et al, 2010], die seit 2005 von einer unabhängigen Historikerkommission im Auftrag des Außenministeriums erstellt worden war. Mit dieser Vergabe des Aufarbeitungsauftrags an externe Wissenschaftler:innen (anstatt einer Bearbeitung „in house“) war zugleich ein neuer Standard gesetzt, an dem sich in der Folge auch viele wissenschaftliche Fachgesellschaften orientierten. Projekt in der Zahnmedizin Diesem Modell folgte auch das gemeinsam von Bundeszahnärztekammer, Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung und DGZMK ausgeschriebene Forschungsprojekt. Nach externer Begutachtung von Projektanträgen vergaben die Förderer den Auftrag 2016 an die beiden Projektleiter Dominik Groß zm113 Nr. 09, 01.05.2023, (770) Neben zahlreichen einzelbiografischen Studien sind viele Arbeiten vor allem auf die Fragen ausgerichtet, in welchen Kontexten Zahnärzte zu Tätern werden konnten. Foto: zm-mg

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