Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 10

ZAHNMEDIZIN | 27 AUS DER WISSENSCHAFT Mythen im Bereich Dentin-Bonding – eine evidenzbasierte Perspektive Elmar Hellwig In allen Bereichen der menschlichen Erkenntnis gibt es scheinbar zeitlose Wahrheiten, die ganz selbstverständlich als Basiswissen kommuniziert werden, so dass niemand mehr auf die Idee kommt, diese zu hinterfragen. Dabei wäre kritisches Denken durchaus hilfreich, weil es nicht selten kaum belastbare Evidenz für diese „Wahrheiten“ gibt. Dass die Suche nach mehr Evidenz mitunter zu provokanten und nicht immer konsensfähigen Aussagen führt, zeigt ein Review zu Mythen über das Dentin-Bonding im renommierten Fachblatt „Journal of Dental Research“. Die Entwicklung der modernen Adhäsivsysteme machte erst die Anwendung minimalinvasiver und gleichzeitig ästhetischer, restaurativer Maßnahmen möglich. Allerdings wurden auch signifikante Veränderungen der Haftfestigkeit von Kompositrestaurationen nach kurzer und langer Lagerungszeit festgestellt. Klinisch wurde über ein Debonding, über postoperative Sensitivität und über Randverfärbungen berichtet. Diese Probleme führten dazu, dass Wissenschaftler sich in erster Linie in Laborversuchen künstlichen Alterungsprozessen zuwandten, um die Degradation der Hybridschicht zu evaluieren und zu verringern. Ohne Frage sind Laborversuche essenziell, um neue Materialien und Prozesse zu entwickeln – Laborstudien können aber nur der erste Schritt bei der Entwicklung von Materialien und deren klinischer Anwendung sein. Die Ergebnisse aus In-vitro-Studien sollten grundsätzlich in klinischen Untersuchungen verifiziert werden, da hier verschiedene bekannte und unbekannte Faktoren die Langlebigkeit von Restaurationen beeinflussen können. Leider werden aber nicht selten klinische Empfehlungen ausgesprochen, die ausschließlich auf Laborversuchen beruhen. Dabei werden unbewusst klinische Protokolle empfohlen, die klinisch nicht erprobt sind und letztlich auf Mythen beruhen. Laboruntersuchungen sind rasch durchgeführt, während klinische Studien sich teilweise über Jahre erstrecken. Bei der Beurteilung von Forschungsergebnissen geht es letztlich aber immer darum, ob Statements tatsächlich auf Evidenz aus klinischen Studien basieren und den Prinzipien der Evidence Based Practice (EBP) folgen. Dabei sollten möglichst randomisierte, kontrollierte Studien durchgeführt werden. So können zum Beispiel auch die Risiken, Kosten und Nutzen für den Patienten beurteilt werden. Während Mythen in der Literatur üblicherweise mit Märchen oder Parabeln in Verbindung gebracht werden, erscheinen sie im Bereich der Medizin eher als „Fakten“, die unhinterfragt einer scheinbar schlüssigen Logik folgen, üblicherweise keinen klaren Ursprung erkennen lassen und nicht auf klinischer Evidenz beruhen. Diese Mythen können über längere Zeit bestehen, insbesondere wenn sie von Experten aus dem jeweiligen Fachgebiet propagiert beziehungsweise unterstützt werden. Irrtümlicherweise werden sie als „beweiskräftig“ hingenommen, wenn sie routinemäßig verbreitet werden. Hier sind insbesondere Lehrbücher und Social Media beteiligt. Drei Autoren um Prof. Alessandra Reis von der Staatlichen Universität Ponta Grossa, Brasilien, haben sich in einem aktuellen Review im Journal of Dental Research mit einigen dieser Mythen beschäftigt und sie auf Evidenz geprüft. Mythos 1: Etch-and-rinse-Adhäsive sollten mit einem Wet-Bonding-Protokoll angewendet werden. AufderBasisvonLaboruntersuchungen und rasterelektronenmikroskopischen Ergebnissen wurde dieses Protokoll eingeführt und von Herstellern übernommen. Klinisch spielen allerdings zahlreiche Variablen – zum Beispiel Art der Adhäsivapplikation, Art des verwendeten Komposits, Lichthärtungsprocedere, Kontamination, Okklusionsverhältnisse – eine erhebliche Rolle im Hinblick auf die Haltbarkeit der Restauration. Die wenigen randomisierten, kontrollierten Studien zu Dentinfeuchtigkeit und Langlebigkeit der Restaurationen kamen im Bereich von zervikalen Restaurationen und Seitenzahnrestaurationen nicht zu dem Ergebnis, dass das Wet-Bonding-Protokoll gegenüber einem Dry-BondingProtokoll überlegen war. Mythos 2: Chlorhexidin sollte appliziert werden, um die Langlebigkeit von Restaurationen zu verbessern. Zahlreiche Laborstudien und eine Exvivo-Studie konnten zeigen, dass die Applikation von Chlorhexidin die Degradation der Hybridschicht verringert. In RCTs, in denen das Debonding Prof. Dr. Elmar Hellwig Universitätsklinikum Freiburg, Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie Hugstetter Str. 55, 79106 Freiburg Foto: privat zm113 Nr. 10, 16.05.2023, (821)

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