Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 10

66 | ZAHNMEDIZIN DER BESONDERE FALL Das Numb Chin Syndrome – ein möglicher Kolibri im klinischen Alltag Justus Mählmann, Alexander Gröbe Bei Sensibilitätsstörungen an der Unterlippe kommen zahlreiche Ursachen aus dem oralen Bereich in Betracht – in manchen Fällen führt die Suche danach jedoch nicht zum Erfolg. Der vorliegende Fallbericht beschreibt eine ausgedehnte Diagnostik, die schließlich zu einer seltenen, aber schweren Grunderkrankung führt – diese kann sich als Hypästhesie im Bereich des N. alveolaris inferior erstmanifestieren und sollte deshalb im klinischen Alltag nicht übersehen werden. Eine 51-jährige Patientin stellte sich notfallmäßig mit einem plötzlich aufgetretenen Taubheitsgefühl im Bereich der rechten Unterlippe sowie ausstrahlender Schmerzen im Bereich des rechten Kieferwinkels und der Wange in der Klinik für Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie des DIAKOVERE Henriettenstiftes vor. Die Symptomatik sei plötzlich aufgetreten und bestehe seit zwei Tagen. Die Patientin konnte sich an kein auslösendes Ereignis erinnern. Es habe kein Trauma stattgefunden und es seien keine zahnärztlichen Behandlungen in der jüngeren Vergangenheit durchgeführt worden. Sie gab als Vorerkrankungen Asthma bronchiale, eine familiäre Hypercholesterinämie und eine Histaminintoleranz an. Kurz zuvor sei ihr eine Hautveränderung im Bereich der Zehen entfernt worden, wobei der histopathologische Befund noch ausstehe. Ansonsten seien keine weiteren Veränderungen im Bereich der Haut oder der Schleimhäute aufgetreten. Bereits im Jahr 2005 sei in einer Universitätsklinik aufgrund von Kribbelparästhesien der Hände und dem Verdacht auf eine multiple Sklerose eine dreidimensionale Bildgebung der kompletten Neuroachse durchgeführt worden – ohne wegweisenden Befund. Klinisch präsentierte sich die Patientin extra- und intraoral ohne erkennbare Auftreibungen im Bereich des rechten Unterkiefers. Die Schleimhäute waren rosig, es lagen keine Zahnlockerungen im IV. Quadranten vor. Alle Zähne im rechten Unterkiefer zeigten sich in der Kälteprovokation sensibel, waren nicht perkussionsempfindlich und es lag keine apikale Druckdolenz vor. Im Bereich der rechten Unterlippe ließ sich eine aufgehobene Spitz-Stumpf-Diskrimination erheben. Die Okklusion war habituell, die Mundöffnung ungestört. Die Patientin gab einen Druckschmerz im Bereich des Ramus mandibulae rechts an. Der erhobene CMD-Kurzbefund ergab drei positive Befunde, so dass der Verdacht auf eine craniomandibuläre Dysfunktion bei bekanntem Bruxismus bestand (schmerzhafte Muskelpalpation, Druckschmerz über dem rechten Kiefergelenk und asymmetrische Mundöffnung). In der zweidimensionalen Bildgebung mittels Orthopantomogramm zeigten sich keine intraossären Raumforderungen im Bereich des N. alveolaris inferior oder des N. mentalis. Die Knochenbinnenstruktur der Unterkieferspongiosa zeigte sich regelrecht. Es lagen keine Hinweise für einen dentogenen Fokus oder allgemein entzündliche Prozesse vor. Konsiliarisch baten wir noch am Vorstellungstag die Kollegen der Neurologie um Mitbeurteilung. Diese fanden bis auf die angegebene Hypästhesie klinisch kein neurologisches Defizit. Laborchemisch zeigte sich ein unauffälliger Befund ohne erhöhte Entzündungsparameter. Der Patientin wurde eine stationäre Aufnahme zur weiteren Abklärung inklusive dreidimensionaler Bildgebung angeboten, die sie allerdings ablehnte. Abb. 1: Orthopantomogramm der Patientin ohne erkennbare pathologische Befunde im Bereich des Canalis mandibularis rechts Foto: DIAKOVERE Henriettenstift zm113 Nr. 10, 16.05.2023, (860)

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