68 | ZAHNMEDIZIN zahl neuer Medikamente zugelassen werden [Dighriri et al., 2023]. In Zusammenhang mit der Literaturrecherche zum hier vorgestellten Patientenfall ist ein Fallbericht zum sogenannten Numb Chin Syndrome von Interesse. Darin beschrieben die Autoren die Kasuistik einer 34-jährigen, sonst gesunden Patientin, die sich mit einem seit fünf Tagen bestehenden Taubheitsgefühl im Bereich des Kinns und der Unterlippe vorstellte. Nach Durchführung einer kranialen Magnetresonanztomografie zeigten sich Läsionen im Bereich der pontinen Fasern des Nervus trigeminus und multiple, periventrikulär gelegene, T2-hyperintense Läsionen. Eine Liquorpunktion ergab den Befund oligoklonaler IgG-Banden. Diese Befunde sprachen für eine demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sich im weiteren Verlauf als Multiple Sklerose mit isoliertem klinischem Befund herausstellte. Nach einer immunmodulierenden Therapie mit Beta-Interferon waren die Beschwerden rückläufig [Oestmann et al., 2008]. Das Numb Chin Syndrome wurde erstmals 1830 von Charles Bell beschrieben, als er bei einer Patientin mit Brustkrebs einen Sensibilitätsverlust im Bereich der linken Unterlippe feststellte. Zeitgleich bemerkte er eine Raumforderung im Bereich des linken Unterkiefers, die nach seinen Schlussfolgerungen ins Foramen mentale vorwachsen musste [Bell, 1833]. Erst 1963 wurde der Begriff „Numb Chin Syndrome“ von Calverley und Mohnac verwendet, die in einer Veröffentlichung fünf Patientenfälle beschrieben – alle mit Hypästhesien im Bereich der Unterlippe oder des Kinns –, ausgehend von verschiedenen bösartigen Neubildungen [Calverley et al., 1963]. Während der Begriff vorwiegend im angelsächsischen Raum Gebrauch findet, wird in Deutschland ein plötzlicher Ausfall im Versorgungsgebiet des N. alveolaris inferior oder des N. mentalis hauptsächlich als Vincent-Symptom bezeichnet, benannt nach dem algerischen Arzt B. Vincent. Dieser beschrieb entsprechende Ausfälle im Rahmen einer Osteomyelitis des Unterkiefers [Vincent, 1896]. In der Literatur lassen sich verschiedene potenzielle Ursachen eines Numb Chin Syndrome finden. Diese sind in Tabelle 1 aufgeführt. Dabei sind zahnärztliche Prozeduren wahrscheinlich die Hauptauslöser, gefolgt von dentogenen Foki wie apikalen Entzündungen, odontogenen und nicht odontogenen Tumoren, Zysten, akuten und chronischen Osteomyelitiden oder auch mechanischer Kompression im atrophen Unterkiefer [Smith et al., 2015]. Weitaus seltener lassen sich bösartige Neoplasien diagnostizieren. Nur etwa ein Prozent aller Malignome metastasieren überhaupt in den Unterkiefer [D’Silva NJ et al., 2006]. Dann sind Sensibilitätsausfälle im Bereich der Unterlippe und des Kinns aber häufig das erste Symptom der bösartigen Krebserkrankung [Massey EW et al., 1981]. Hier kommt den behandelnden (Zahn-)Ärzten also eine besondere zm113 Nr. 10, 16.05.2023, (862) POTENZIELLE URSACHEN EINES NUMB CHIN SYNDROME Ätiologie Erkrankungen Neoplasien Mundhöhlen-/Oropharynxkarzinome inklusive der Speicheldrüsen, Nasopharynxkarzinome, Malignes Melanom, Ösophagus-/Magenkarzinom, Glioblastom, Medulloblastom, Ependymom, Neuroblastom, Leptomeningeale Karzinomatose, Lymphome/Leukämien, Morbus Waldenström, Posttransplantations lymphoproliferative Erkrankung, Multiples Myelom, Osteosarkom, Rhabdomyosarkom, Liposarkom, Reticulumzellkarzinom, Schilddrüsenkarzinome, Nierenzellkarzinome, Kleinzellige und Nicht-Kleinzellige Lungenkarzinome, Hepatozelluläres Karzinom, Chordom, Mammakarzinom, Colorectale Karzinom, Ovarialzellkarzinom, Prostatakarzinom, Endometriumkarzinom, Paraneoplastisches Syndrom Entzündliche oder autoimmune Erkrankungen Systemischer Lupus erythematodes, Chronisch inflammatorisch demyelinisierende Polyradikuloneuropathie, Diabetische Polyneuropathie, Riesenzellarteriitis, Arteriitis nodosa, Sjögren Syndrom, Sarkoidose, Multiple Sklerose, Amyloidose, Anti-GQ1b-Antikörper Infektiöse/Traumatische oder andere Ursachen HIV, Lyme-Borreliose, Sichelzellanämie, Akute/chronische Osteomyelitis, Periapikale Infektionen/Abszesse, Zahnärztliche Behandlungen/Betäubungen, Odontogene und nicht odontogene Zysten/Raumforderungen, Orthognathe Chirurgie, Gesichtstraumata, Speicheldrüsenbiopsie der Unterlippe, Atrophie des zahnlosen Unterkiefers mit mechanischer Kompression, Synovialzyste des temporomandibulären Gelenks, Elongierter Proc. Stylohyoideus, Medikamente (Bisphosphonate, Mefloquin) Tab. 1, Quelle: nach [Smith et al., 2015].
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