Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 11

40 | ZAHNMEDIZIN FORTBILDUNG „DENTALES TRAUMA“ – TEIL 4 Chirurgische Aspekte Dirk Nolte, Hendrik Terheyden, Andreas Neff, Henrik Dommisch Zahntraumata im Jugendalter können sich nachteilig auf das Kieferwachstum auswirken. Ist eine chirurgische Intervention unvermeidlich, sind die Indikation und die angewandte Technik zum richtigen Zeitpunkt entscheidend, um die bestmögliche Prognose für den betroffenen Zahn und sein umliegendes Gewebe zu erreichen. In der Akutphase des Traumas gilt – insbesondere für den unerfahrenen Zahnarzt – das Prinzip „Less is more“. Nur das Notwendige wird erledigt (zum Beispiel Abdeckung einer eröffneten Pulpa, Reposition eines dislozierten Zahnes, Replantation eines avulsierten Zahnes, Adaptation von denudiertem Weichgewebe), das Zeitaufwendige wird zurückgestellt (zum Beispiel endodontische Versorgung, Füllung, aufwendige Entfernung eines komplex zertrümmerten Zahnes). So sollten lockere Zahnfragmente bei Kronen-Wurzel-Frakturen mittels Schiene zunächst refixiert werden, was gute ästhetische Dienste leisten kann. Auch die Entscheidung zur Entfernung eines traumatisierten Zahnes kann in der Notfallsituation oftmals aufgeschoben werden, was eine mögliche notwendige Weichgewebsrekonstruktion erheblich erleichtert und alle Beteiligten vom Zeitdruck befreit. Diese konservative Vorgehensweise wird von Patienten und Angehörigen im Übrigen sehr geschätzt, die sich in der Regel noch in einem Zustand der Aufregung befinden. Nach der Abschwellung der Weichteile sowie der Beruhigung von Patienten und Angehörigen kann bis zum dritten oder vierten posttraumatischen Tag der weitere Behandlungsplan stressfrei überlegt und besprochen werden. Avulsion und Replantation Die Diagnose „Avulsion“ beschreibt die vollständige Dislokation eines Zahnes aus der Alveole [Andreasen, 1972]. Diese Diagnose erfordert die solide anamnestische Befragung sowie die umfassende klinische und röntgenologische Untersuchung. Kann eine andere Art traumatischer Zahnverletzung ausgeschlossen werden, sind diese Aspekte aus klinischer Sicht zu beachten, um die Prognose des betroffenen Zahnes zu verbessern: „ Austrocknung oder mechanische Schädigung der Zahnwurzel-Oberfläche vermeiden „ möglichst zeitnahe Replantation des Zahnes anstreben „ vorzugsweise zellphysiologische Lagerung (Zahnrettungsbox) „ alternative Lagerung (nach Prognose in absteigender Reihenfolge): Alveolenfach, (H-)Milch, isotone Kochsalzlösung, Mundspeichel [Fouad et al., 2020; Osmanovic et al., 2018] „ Tetanusschutz abklären Diese Maßnahmen verfolgen unter anderem das Ziel, die desmodontalen Zellen auf der Wurzeloberfläche zm113 Nr. 11, 01.06.2023, (938) FORTBILDUNGSREIHE ZUR NEUEN S2K-LEITLINIE „THERAPIE DES DENTALEN TRAUMAS BLEIBENDER ZÄHNE“ Als interdisziplinäres Fach ist die zahnärztliche Traumatologie auf ein fundiertes Wissen in verschiedenen Disziplinen der Zahnmedizin angewiesen. Gerade in komplexen Fällen müssen Entscheidungen auch außerhalb der eigenen therapeutischen Komfortzone getroffen werden. Daher ist es für viele Behandler sehr hilfreich, wenn sie auf aktuelle evidenzbasierte Therapieempfehlungen zurückgreifen können. Die im Oktober 2022 publizierte S2k-Leitlinie „Therapie des dentalen Traumas bleibender Zähne“ wurde unter Beteiligung zahlreicher Fachgesellschaften grundlegend aktualisiert und ergänzt. In fünf Fortbildungsbeiträgen werden die verschiedenen Aspekte der zahnärztlichen Therapie vorgestellt: „ Teil 1: Dentales Trauma: Diagnostik, Dokumentation und Nachsorge (zm 9/2023) „ Teil 2: Dentales Trauma: Endodontische Aspekte (zm 10/2023) „ Teil 3: Dentales Trauma: Restaurative Aspekte (zm 10/2023) „ Teil 4: Dentales Trauma: Chirurgische Aspekte (zm 11/2023) „ Teil 5: Dentales Trauma: Kieferorthopädische Aspekte (zm 11/2023) Empfehlung Grundsätzliches chirurgisches Vorgehen Empfehlungsgrad Konsensbasierte Empfehlung: – Minimal invasives Vorgehen mit Reposition und Ruhigstellung sowie Weichteilversorgung in der Akutsituation, invasives Vorgehen (wie Extraktion, Enttrümmerung, Sofortimplantation) vermeiden – Vorgehensweise nach dem chirurgischen Grundsatz: Hartgewebe vor Weichgewebe und von innen nach außen – Sofortmaßnahme: Avulsierte Zähne zellphysiologisch lagern (bevorzugt Zahnrettungsbox), bis der Patient (wieder) zahnmedizinisch versorgt werden kann Konsensstärke: starker Konsens

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