56 | ZAHNMEDIZIN zm113 Nr. 12, 16.06.2023, (1058) DER BESONDERE FALL MIT CME Osteogenesis imperfecta – eine seltene Erbkrankheit mit Bedeutung für die orale Medizin Josephine Ionfrida, Peer W. Kämmerer Pathologische Frakturen nach Weisheitszahnosteotomien zählen zu den seltenen Komplikationen. Dennoch kann auch bei Routineeingriffen die Anamnese Risikofaktoren zutage fördern, die die Abwägung von Nutzen und Risiko einer Intervention beeinflussen. In diesem Fall wurde eine seltene Erbkrankheit offenbar. Ob sich die entstandene Fraktur hätte vermeiden lassen, bleibt jedoch ungewiss. Im Januar 2023 stellte sich ein 17-jähriger Patient nach Überweisung vom Hauszahnarzt mit der Bitte um Mitbeurteilung in der Poliklinik der MKGChirurgie der Universitätsmedizin Mainz vor. Im Dezember 2022 waren ihm alio loco die Zähne 18 und 48 in Lokalanästhesie entfernt worden (Abbildung 1). Einige Stunden vor dem Zahnarztbesuch hatte der Patient ein lautes Knacken beim Kauen vernommen, was zu anschließenden Schmerzen geführt habe. Beim Zahnarzt erfolgte daraufhin eine Panoramaschichtaufnahme, die jedoch keinen sicheren Frakturausschluss ermöglichte. Dieser Patient stellte sich nun mit Schmerzen und Druckdolenz im Kieferwinkel rechts vor. Der enorale Befund zeigte weder eine Fehlokklusion noch ein Os liberum, die faziale Sensomotorik war seitengleich intakt. Die allgemeine Anamnese förderte jedoch eine Osteogenesis imperfecta Typ I zutage („Glasknochenkrankheit“). Das ad domo angefertigte DVT ergab den Befund einer Fraktur an der Linea obliqua rechts (Abbildung 2). Nach ausführlicher Besprechung der Diagnose und der Therapieoptionen erfolgte am nächsten Tag die Reposition und Osteosynthese in Intubationsnarkose. Dabei konnte die Fraktur reponiert und mittels 6-Loch-Platte nach Champy stabilisiert werden (Abbildung 3). Der Patient konnte bei regelhafter postoperativer radiologischer Kontrolle am dritten postoperativen Tag in die ambulante Nachsorge entlassen werden. Diskussion Eine Fraktur ohne vorangegangenes Trauma wird in der Medizin als „pathologische“ Fraktur bezeichnet. In der Zahnmedizin können solche Ereignisse am Kieferknochen unter physiologischer Kaubelastung oder bei geringem Kraftaufwand beobachtet werden. Voraussetzung dafür ist eine vorangegangene Schwächung des Knochens durch beispielsweise Entzündungen, osteolytische Prozesse oder – wie hier – eine iatrogene Schwächung der Knochenstruktur [Gerhards et al., 1998]. Besonders der Kieferwinkel ist durch die anatomischen Begebenheiten nach kieferchirurgischen Eingriffen wie der Osteotomie der Sapientes eine Prädilektionsstelle für Frakturen dieser Art [Bodner et al., 2011; Bergt, 2016]. Die Osteogenesis imperfecta (OI), umgangssprachlich „Glasknochenkrankheit“, ist eine genetische Erkrankung, die mit einer reduzierten Knochenstabilität und -dichte einhergeht. Mit einer Inzidenz von circa 1:20.000 Lebendgeburten gehört sie zu den seltenen genetischen Erkrankungen [Hoyer-Kuhn et al., 2017; Palomo et al., 2017]. Die phänotypische Ausprägung und damit assoziierte Schwere der Erkrankung variiert stark und reicht von milden Formen ohne Knochenbrüche (Typ I) bis hin zu intrauterinen Frakturen und perinatalem Tod (Typ II) [Malmgren und Norgren, 2002; Rauch Dr. med. dent. Josephine Ionfrida Klinik und Poliklinik für MKG-Chirurgie und Plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Augustusplatz 3, 55131 Mainz Foto: Universitätsklinikum Mainz Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, MA, FEBOMFS Leitender Oberarzt/ Stellvertr. Klinikdirektor Klinik und Poliklinik für MKG-Chirurgie und Plastische Operationen, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Augustusplatz 3, 55131 Mainz Foto: Kämmerer ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.
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