Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 13

36 | TITEL bedürftigkeit werden zahnmedizinische Kontrolluntersuchungen und auch die Durchführung häuslicher Mundhygienemaßnahmen oft nicht prioritär eingeschätzt [Hoben et al., 2017]. Hinzu kommt, dass Patienten die Zahnarztpraxis eventuell nicht mehr selbstständig oder nur mit großem Aufwand aufsuchen können. Seniorinnen und Senioren mit Pflegebedarf sind beim Zugang zu zahnmedizinischen Leistungen behindert [Göstemeyer et al., 2019; Gomez-Rossi et al., 2022]. Das Konzept der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur funktionalen Gesundheit, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) gewichtet die Umweltfaktoren als entscheidenden Faktor beim Erhalt von Funktionalität, Aktivität und Teilhabe bei Personen mit Gesundheitsproblemen Sowohl die Funktionsfähigkeit und die Teilhabe im Alltag als auch die Behinderung einer Person an der Teilhabe bei Alltagsaktivitäten oder Gesundheitsmaßnahmen sind demnach das Ergebnis beziehungsweise die Folge einer komplexen Beziehung zwischen dem Menschen mit einem Gesundheitsproblem und seinen Umwelt- und personenbezogenen Faktoren [Cibis, 2009] (Abbildung 2). Wendet man das bio-psycho-soziale Modell der ICF auf die Zahnmedizin an, stehen auf der einen Seite die zahnmedizinisch relevante Funktionseinschränkung oder die Allgemeinerkrankung (zum Beispiel demenzielle Erkrankung oder Funktionseinschränkungen nach Schlaganfall) und dem gegenüber die Umweltfaktoren, die in erster Linie durch das Zusammenspiel des betreuenden Umfelds (Pflegefachpersonen, Angehörige) mit dem zahnmedizinischen Praxisteam mitgestaltet werden (Kompensation von Mundhygienedefiziten, Zugang zu niederschwelligen zahnmedizinischen Betreuungs- und Behandlungsangeboten, die die aus der Funktionseinschränkung resultierenden besonderen Bedürfnisse berücksichtigen). Ob die Funktionseinschränkung/ Allgemeinerkrankung tatsächlich Auswirkungen auf die Mundgesundheit beziehungsweise auf die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität hat, hängt im besonderen Maß vom erfolgreichen Zusammenspiel der (kompensatorischen) Umweltfaktoren ab. Dem zahnmedizinischen Team wird hiermit eine erhebliche Verantwortung zuteil, zu deren Umsetzung es adäquater Rahmenbedingungen bedarf [Gomez-Rossi et al., 2022]. Individuelle Patientenbedürfnisse Der lebenslange Erhalt des individuellen Maximums an Mundgesundheit und mundgesundheitsbezogener Lebensqualität sollte Ziel jeder zahnmedizinischen Betreuung sein. Die individuellen Ansprüche an die persönliche mundgesundheitsbezogene Lebensqualität sind bei älteren genauso heterogen wie bei jüngeren Personen [Koistinen et al., 2020]. Je ausgeprägter eine geriatrische Erkrankung ist, desto höher ist das Risiko für einen schlechten Mundgesundheitszustand und desto schlechter bewerten die Personen auch ihre Lebensqualität [Khanagar et al., 2020; Röhrig et al., 2020]. Die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität stellt bei allen, aber insbesondere bei älteren PatientInnen, die primäre Zielgröße aller zahnmedizinischen Maßnahmen dar. Viele Aspekte, die wir für die Qualität einer Behandlung betrachten – wie Randspalt, Approximalkontakt oder Okklusionskontakte –, sind letztlich nur Surrogatparameter. Für die Patientinnen und Patienten stehen die Funktion (hauptsächlich Mastikation und Phonation), die Ästhetik, die Schmerzfreiheit und letztlich der psychosoziale Einfluss (zum Beispiel soziale Kontakte, psychisches Wohlbefinden) an erster Stelle. Diese stark fokussierte Betrachtung der PatientInnenperspektive stammt ursprünglich aus der Tumorforschung, etabliert sich aber zunehmend in allen Bereichen der Medizin und Zahnmedizin. Ein weiterer wichtiger Punkt in der zahnmedizinischen Versorgung ist die zm113 Nr. 13, 01.07.2023, (1134) Abb. 2: Modell zur Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (engl.: International Classification of Functioning, Disability and Health) mit Ergänzungen von mundgesundheitsassoziierten Faktoren (rot) Foto: modifiziert nach [DIMDI, 2005; BfArM, 2022]

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