Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 14

GESELLSCHAFT | 73 zm113 Nr. 14, 16.07.2023, (1263) MEDICAL TARGETING Was die Werbeindustrie über unsere Krankheiten weiß Was auch immer wir im Internet tun, wird ausgewertet, um passgenau Werbung zu vermarkten. So weit, so klar. Doch jetzt geben die Nachrichtenportale netzpolitik.org und The Markup auf Grundlage einer aufgespürten Datei einen bisher einmaligen Einblick in das Geschäft mit den Daten. Umfang und Detailtiefe dieser Datensammlung sind erschreckend. Es gibt kaum eine menschliche Eigenschaft, die Werbetreibende nicht für Werbung ausnutzen wollen“, schreibt netzpolitik.org. Es sei kein Problem, Menschen aus Dänemark, die kürzlich einen Toyota gekauft haben, gezielt anzusprechen. Oder Menschen, die gerade finanzielle Probleme oder keine Krankenversicherung haben. Oder beides. Ob minderjährige Schwangere, Homosexuelle oder depressive PolitikerInnen – sie alle ließen sich einwandfrei identifizieren, um ihnen gezielt Werbung anzuzeigen. Da sind sich die Experten nach Sichtung jener Datei sicher, die der Wiener Tracking-Forscher Wolfie Christl im Internet gefunden und ihnen zur Verfügung gestellt hat. Diese knapp zwei Jahre alte Datei stammt vom Datenmarktplatzanbieter Xandr, der mittlerweile von Microsoft gekauft wurde. Sie zeigt, dass NutzerInnen beziehungsweise deren anonymisierte, einmalige Werbe-IDs mit mehr als 650.000 Segmenten in Verbindung gebracht werden können, die die Lebensumstände, die Persönlichkeit, Verhaltensweisen und Interessen sehr detailliert beschreiben. Die Daten, auf denen diese Kategorisierung fußt, basieren auf dem Nutzungsverhalten von Apps und Smart-TVs, der Kredit- und Bonuskartennutzung, dem Surfverhalten im Internet sowie den Daten aus Sprachassistenten, Smartwatches und Bewegungsdaten. Wir sehen, was du googelst, surfst und kaufst ... Die Datei bildet dabei den Stand von Mai 2021 ab und erlaubt es laut Bericht, die damals möglichen Werbepraktiken nachzuvollziehen – die nach Einschätzung von zurate gezogenen Juristen strukturell unvereinbar sind mit den geltenden Datenschutzanforderungen. Wie netzpolitik.org und The Markup weiter schreiben, wollten sie sich von Xandr gerne erklären lassen, ob das Unternehmen zu einem anderen Schluss kommt. Doch auf mehrere Presseanfragen hat der Werberiese nicht reagiert. Stattdessen war die Datei nach der Anfrage an ihrem Ursprungsort nicht mehr online verfügbar. Die Datenschutzexperten vermuten, dass die gefundene Datei dazu gedacht war, das breite Spektrum an Datenquellen zu präsentieren, die auf dem Xandr-Marktplatz verfügbar sind. Nach Christls Ansicht zeigt die Liste, dass Xandr zumindest im Jahr 2021 große Mengen sensibler Daten von einer Vielzahl von Datenbrokern aus der ganzen Welt weiterverkauft hat. 93 Firmen seien in der Datei als Anbieter gelistet. Zwar stamme der Großteil der Firmen aus den USA, doch sieben Datenhändler kämen aus Deutschland. Und zahlreiche weitere deutsche Firmen seien als ursprüngliche Quelle für die Daten ersichtlich. Dabei enthält die Kategorisierung laut Berichten viele medizinische und gesundheitsbezogene Segmente, darunter vermutete Diagnosen und Medikamente. Diese Segmente reichen von „A“ wie Asthma, Arthritis oder ADHS bis zu Schlagworten wie „Unfruchtbarkeit“, „Vorhofflimmern“ oder „Viagra“. Darüber hinaus gab es „zahlreiche Profile, die sich mit den Gefühlen und der Psychologie der Menschen befassten und den Werbetreibenden eine AusMICROSOFT KAUFT SICH IN MULTIMILLIONEN-DOLLAR-MARKT EIN Xandr ist eine 2018 gegründete Online-Werbeplattform, die zum Juni 2022 von Microsoft übernommen wurde. Branchengerüchten zufolge lag der Kaufpreis bei knapp einer Milliarde US-Dollar. Heute bietet die Werbe- und Analysetochter des Unternehmens eine Online-Plattform sowie eine Community für Programmatic Advertising. So lautet der Fachbegriff für den vollautomatischen und individualisierten Einund Verkauf von Werbeflächen in Echtzeit – auf der Basis vorliegender Nutzerdaten. Xandr gilt nach Einschätzung von netzpolitik.org als eine der ersten Adressen für alle Unternehmen, die sich bei der Onlinewerbung nicht vollständig den geschlossenen Systemen von Google, Meta und Amazon ausliefern wollen. Mit dem Zukauf wurde Microsoft zu einem Big Player in dem lukrativen Markt des Programmatic Advertising, dessen weltweiter Umsatz kontinuerlich wächst und Medienberichten zufolge 2022 geschätzt fast 500 Milliarden US-Dollar betrug.

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