Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 15-16

ZAHNMEDIZIN | 33 doch ein substanzieller Teil ist nicht in der Lage, im Wachzustand behandelt zu werden. Ihnen steht gesetzlich das gleiche Recht auf benötigte Gesundheitsleistungen zu, die sie unter anderem speziell wegen der Behinderung/ Erkrankung benötigen. Der beobachtete Anstieg resultiert auch aus der zunehmenden Sensibilisierung für die wichtige Rolle der Mundgesundheit im Rahmen der Allgemeingesundheit. Wir Zahnärzte können, wollen und müssen dazu beitragen, dass auch jene Patienten ihre eigenen Zähne so lange wie möglich behalten, denn das bedingt eine deutlich höhere Lebensqualität. Allerdings ist der Aufwand für zahnerhaltende Maßnahmen, Zahnreinigungen, Füllungen, Parodontalbehandlungen, Kronen und Wurzelkanalbehandlungen deutlich höher als für Zahnextraktionen. Mit welchem Betreuungsaufwand eine zahnmedizinische Therapie in Allgemeinanästhesie durchgeführt werden kann, wird vom Anästhesierisiko bestimmt. Je höher das Anästhesierisiko, also je mehr anästhesiologische und/ oder medizinische Risikofaktoren der Patient aufweist, desto eher muss die Versorgung durch einen Maximalversorger wie beispielsweise eine Universitätsklinik erfolgen. Diese Entscheidung trifft im Regelfall ein Facharzt oder eine Fachärztin für Anästhesiologie. Er oder sie entscheidet auch, ob der Eingriff ambulant oder stationär durchgeführt werden kann. Die zahnmedizinische Therapie ist hier meist nicht der ausschlaggebende Faktor. Problemfelder: die OP- und die Personalkapazitäten Seit der Corona-Pandemie sind die limitierten Kapazitäten der Krankenhäuser in Bezug auf Operationsräume, Betten und medizinisches Personal bekannt. Verschärft durch die finanzielle Schieflage vieler Krankenhäuser nach der Corona-Pandemie kämpfen die Kliniken mit Kapazitätsengpässen und müssen die auf Wartelisten stehenden Patienten nach Schweregraden sortieren. Personen mit Bedarf an zahnmedizinischer Therapie in Allgemeinanästhesie rutschen immer dann nach hinten, wenn kein hochakuter Behandlungsbedarf vorliegt. Ein weiteres großes Problem ist, dass die Zahl der Personalstellen der zahnmedizinischen Abteilungen staatlicher Universitätskliniken strikt mit der Zahl Studierenden im Fach Zahnmedizin verbunden ist. Im Regelfall ist kein Personal für die reine Krankenversorgung verfügbar, sondern die Lehrkräfte sind sozusagen „abgezählt“, um die Studierenden auszubilden. Die notwendige Mehrkapazität für hochkomplexe spezialisierte Versorgungen wie Behandlungen in Allgemeinanästhesie fehlt somit. Ambulante zahnmedizinische Behandlungen in Allgemeinanästhesie werden über die Gebührenordnungen BEMA und GOZ (gegebenenfalls zuzüglich einer Anästhesiepauschale) abgerechnet. Somit generieren sie die gleichen Erträge wie zahnärztliche Behandlungen im Wachzustand bei einem gesunden Menschen in einer zahnärztlichen Praxis. Dass der Behandlungsaufwand überproportional höher ist, liegt auf derHand. Bei stationärer Betreuung werden Fallpauschalen angesetzt (sogenannte DRGs, Diagnosis Related Groups), die in einem festen Erlös münden. Die für die meisten Patienten zutreffendeDiagnose „Zahnkaries“ inklusive Berücksichtigung von zum Teil schweren Nebendiagnosen (wie Epilepsie, Entwicklungsstörung, Paresen, Fehlbildungen des Herzens) führt zu einem effektiven DRG-Entgelt von weniger als 2.000 Euro. Mit diesem Entgelt müssen alle Aufwände des Krankenhauses bedient werden. Dazu zählen die stationäre Aufnahme, Voruntersuchungen, Anästhesieleistungen und der operative Eingriff (in diesem Fall die gesamte zahnmedizinische Therapie) sowie die Liegedauer auf einer Station. Unter diesen Rahmenbedingungen ist es unmöglich, kostendeckend arbeiten zu können. Kapazitätsausweitungen sind bei derartig defizitären Rahmenbedingungen illusorisch. Lösungswege Wichtig und zuallererst brauchen wir dringend eine Sensibilisierung für das Problem! Momentan fallen vulnerable Gruppen vielfach durch das Raster unseres Gesundheitssystems. Da wir uns als Zahnmediziner verantwortlich fühlen, die zahnmedizinische Versorgung vulnerabler Gruppen sicherzustellen und zu verbessern, sehen wir uns in der Verantwortung, über diesen Missstand zu informieren und gemeinsam mit den am System Beteiligten Lösungen zu erarbeiten. Wir fordern eine Reformierung der Abrechnungsmodalitäten. Im stationären Setting muss über eine Anpassung der entsprechenden Fallpauschalen gesprochen werden. Im ambulanten Bereich muss es angemessene Zusatzentgelte geben. Zudem brauchen wir in den Universitätskliniken kapazitätsneutrale zahnmedizinische Stellen(anteile) für die reine hochspezialisierte Krankenversorgung. Weiterhin müssen wir Hand in Hand mit niedergelassenen Kollegen und Expertinnen in Netzwerkstrukturen zusammenarbeiten. Eine sinnvolle Patientenverteilung in die verschiedenen Ebenen der Versorgung muss regional und überregional definiert und gestaltet sein. Wir sehen uns als Zahnmediziner ethisch in der Pflicht, uns für die Gesundheit und Lebensqualität dieser Patientengruppen einzusetzen! zm113 Nr. 15-16, 16.08.2023, (1351) Univ.- Prof. Dr. Diana Wolff Ärztliche Direktorin der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde an der Mund-, Zahn- und Kieferklinik des Universitätsklinikums Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg Foto: Universitätsklinikum Heidelberg Univ.-Prof. Dr. Andreas Schulte Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde / Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin, Universität Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen-Str. 44, 58455 Witten Foto: Universität Witten/Herdecke

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