16 | POLITIK cherungsschutz über den Arbeitgeber wegfällt. Dass die öffentliche Zahnpflege kein Mandat hat, hat die Ungleichheit in Sachen Mundgesundheit in den vergangenen 40 Jahren noch verschärft. So liegt die Prävalenz frühkindlicher Karies bei drei- bis fünfjährigen indigenen Kindern bei 85 Prozent. Einkommensbedingte Unterschiede in der selbstberichteten Mundgesundheit bestehen in allen Altersgruppen und Geschlechtern, wobei 20- bis 64-Jährige das größte Ausmaß der Ungleichheit erleben. Da nur bestimmte in Krankenhäusern zu erbringende chirurgisch-zahnärztliche Leistungen überhaupt durch die Versicherung abgedeckt sind, wenden sich Menschen mit wenig Geld selbst für eine Standardzahnbehandlung zumeist an Arztpraxen oder Notaufnahmen. Dort landen sie natürlich auch, wenn unbehandelte orale Erkrankungen zu Atemwegsbeeinträchtigungen, Endokarditis oder Halsabszessen geführt haben. Karies ist übrigens in Kanada der häufigste Grund für einen chirurgischen Eingriff unter Vollnarkose bei Kindern im Alter von ein bis fünf Jahren – mehr als infolge von Ohr- oder Mandelentzündungen. Tatsächlich gab es in Alberta von 2011 bis 2016 mehr Besuche in der Notaufnahme aufgrund von Zahnproblemen als wegen Asthma und Diabetes, und in British Columbia wurden 70 Prozent dieser Besuche als nicht dringend eingestuft. Allein in Ontario wurden 2014 fast 61.000 Behandlungen in Notaufnahmen wegen Mundgesundheitsproblemen durchgeführt, was geschätzte Kosten von mindestens 31 Millionen US-Dollar verursacht hat. Eine Versicherung löst nicht alle Probleme Dennoch löse ein Versicherungsschutz nicht automatisch alle Probleme, gibt Colleen M. Flood vom IRPP zu bedenken. So ist in Québec die Zahl der Notaufnahmefälle bei Zahnerkrankungen – insbesondere Karies – von 2004 bis 2013 nach oben gegangen, obwohl es dort eine staatlich finanzierte zahnärztliche Versorgung für Kinder unter zehn Jahren gibt. Zurückzuführen sei der Anstieg teilweise auf mangelnde Kenntnisse über die Mundgesundheit, eine „abwartende“ Haltung und Laiendiagnosen seitens der Eltern, berichtet das Team um Flood. Insgesamt zeige die alarmierende Häufigkeit von Besuchen in der Notaufnahme wegen Mundgesundheitsproblemen, insbesondere bei Kindern, Einwanderern, Geflüchteten, Obdachlosen und indigenen Bevölkerungsgruppen, wie groß die Hindernisse beim Zugang zur zahnärztlichen Versorgung für marginalisierte Gruppen sind. Dabei vergrößere die schlechte Verteilung der Zahnarztpraxen die Kluft hinsichtlich der Erreichbarkeit noch weiter, da die meisten Zahnärzte in Gegenden mit höherem Haushaltseinkommen praktizieren, kritisieren die Forscher vom IRPP: „Selbst diejenigen, die Anspruch auf eine der begrenzten öffentlichen Zahnversicherungen in Kanada haben, haben oftmals keinen Zugang zur zahnärztlichen Versorgung." Zudem zögerten Zahnärzte – möglicherweise aufgrund der niedrigeren Gebühren der öffentlichen Kostenträger – besonders bedürftige Patienten wie Sozialhilfeempfänger anzunehmen. Es sei für sie schlichtweg unkomplizierter, Patienten mit höherem Einkommen mit einer privaten Zahnversicherung zu behandeln und abzurechnen. Bei den Patienten sei Scham oft ein Grund, sich nicht behandeln zu lassen: Aus Angst, wegen mangelhafter oraler Hygiene verurteilt zu werden, trauen sich viele nicht zum Zahnarzt. Einigen falle es auch schwer, sich eine Auszeit von der Arbeit, familiären Verpflichtungen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen zu nehmen. Im Übrigen mangele es vielleicht auch an deröffentlichen Wertschätzung für die Notwendigkeit zahnärztlicher Prävention, schreiben die Autoren. Ohne die Überweisung an einen Zahnarzt zur fachkundigen Beurteilung und Behandlung werden Patienten den Forschern zufolge aber weiter Krankenhäuser oder Arztpraxen aufsuchen, was ihre Gesundheit weiter verschlechtert und das System zusätzlich belastet. Ein Paradebeispiel dafür sei unentdeckter oder verzögert erkannter Mundkrebs: zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1438) HOHE GESUNDHEITSAUSGABEN, ABER KEINE GERECHTE VERSORGUNG Kanada ist das zweitgrößte Land der Erde. Auf den 9,98 Millionen Quadratkilometern leben aber nur rund 38 Millionen Menschen. Während in Städten wie Vancouver, Montreal und Toronto vermehrt Menschen mit europäischen Wurzeln wohnen, ist über die Hälfte der indigenen Bevölkerung in Reservaten (40 Prozent) und auf dem Land (14 Prozent) zu Hause. Stark besiedelt sind die südöstlichen Provinzen Ontario (14,7 Millionen) und Quebec (8,6 Millionen) und das Land entlang der Grenze zu den USA. Die gesundheitliche Infrastruktur ist auf dem Land viel schlechter als in der Stadt, die Lebenserwartung auch, das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko höher. Krankheiten wie Depressionen, Bluthochdruck oder Rheuma treten hier ebenfalls häufiger auf. Die Gesundheitsversorgung erfolgt vor allem über Kliniken und private Praxen. Für Facharztbesuche benötigt man eine Überweisung. Auf 1.000 Einwohner kommen in Kanada nur 2,7 Ärzte und 0,65 Zahnärzte, die überdies im Land sehr ungleich verteilt sind. In Deutschland sind es 4,5 beziehungsweise 0,85. Mit 5.370 US-Dollar pro Kopf und einem Anteil von 10,8 Prozent am BIP zählt Kanada zu den Ländern mit überdurchschnittlich hohen Gesundheitsausgaben. Die Kosten pro Kopf liegen damit 2.000 US-Dollar über dem Durchschnitt aller OECD-Staaten. Zwischen Januar 2016 und September 2018 sind 10.337 Kanadier an einer Opioid-bedingten Überdosis gestorben.
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