GESELLSCHAFT | 49 Großbritannien‘“ [Ulrich 1997]. Der politisch subversive Kriminalpolizist Fries war maßgeblich beteiligt an einem Rettungsversuch von Boelsens Doktorvater Karl Herxheimer, der allerdings erfolglos blieb [Bonavita 2023]. Boelsens Zahnarztpraxis und Hayns Arztpraxis fungierten als heimliche Treffpunkte für konspirative Gespräche, aber auch für die Organisation geeigneter Unterschlupfmöglichkeiten für NS-Verfolgte. Auch in den Praxen selbst wurden nachts Personen versteckt. So konnte man in Hayns Praxis „als vermeintlicher Patient mit Losungswort und einem Zahlencode nächtens unterschlüpfen.“ [Bonavita 2023]. Dank Losungswort konnten Verfolgte nachts in die Praxis Tatsächlich lebten politisch missliebige Bürger in diesen Jahren im Raum Neu-Isenburg gefährlich. Nationalsozialistische „Fahnenappelle“, Denunziationen und Entrechtungen waren nach 1933 an der Tagesordnung. Bereits 1935 wurde in der Stadt eine „Judenliste“ veröffentlicht. Das jüdische Kinderund Frauenheim Neu-Isenburg wurde in der Reichspogromnacht 1938 durch Brandstiftung weitgehend zerstört; 1942 wurde es ganz aufgelöst und seine Bewohner wurden deportiert und teilweise ermordet [Heubach 1986]. Obwohl Teile der Widerstandsgruppe 1941 bei der Gestapo angezeigt wurden, entgingen Boelsen und sein ärztlicher Kollege Hayn bis zum Kriegsende einer Verfolgung. Für Fittkau/Werner war dies „pures Glück, denn die illegalen Strukturen, in denen sie sich bewegten, wurden von Unterstützern des NS-Regimes schon Jahre vorher erkannt“ [Fittkau/Werner 2019, 74]. Selbst nach dem gescheiterten „HitlerAttentat“ vom 20. Juli 1944 bestand das Leuschner-Netz fort, obwohl Leuschner selbst denunziert und im August 1944 vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler [1893-1945] zum Tode verurteilt wurde. Boelsen selbst beschrieb die Neu-Isenburger Zelle mit folgenden Worten: „In dieser Zeit entstand unsere illegale Widerstandsgruppe, der neben Dr. Hayn und mir nur wenige Mitglieder angehörten. Des Risikos bewusst haben wir den Kreis sehr klein gehalten, kamen aber über unseren gemeinsamen Patienten, den blinden Dr. Weinreich, in Verbindung zu Herrn Kettel, der seinerseits Kontakte zu deutschen sozialistischen Organisationen in Großbritannien hatte“ [Rebentisch/Raab 1978]. Boelsen überlebte die NS-Zeit unbeschadet und machte sich nach Kriegsende weiter um die Zivilgesellschaft verdient: Durch besagten Gewerkschaftsfunktionär und Widerstandskämpfer Gustav Kettel (1903-1983) erfuhren er und Hayn das Codewort, das ihnen nach dem Einmarsch der Amerikaner direkten Zugang zu den alliierten Vertretern verschaffte [Rebentisch/Raab 1978]. Letztlich hatten Boelsen und Hayn wesentlichen Anteil daran, dass der Krieg in Neu-Isenburg ohne Blutvergießen endete: „Nachdem sie sich bereits für die gewaltfreie Auslieferung der Stadt an das amerikanische Militär eingesetzt hatten, sorgten Dr. Boelsen und Dr. Hayn nun auch für eine geordnete Übergabe der politischen Verantwortung an die amerikanischen Besatzungsbehörden“ [Maurer 2020]. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Amerikaner Boelsen kurzerhand politisch einbanden: Am 17. April wählte der „Bürgerausschuss“, der von der amerikanischen Militärverwaltung gebildet worden war und als provisorische Gemeindevertretung arbeitete, Boelsen zum kommissarischen Bürgermeister der Stadt. Boelsen musste das Amt allerdings nur wenige Wochen ausüben: „Am 22. Mai zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1471) Der Zahnarzt und Widerstandskämpfer Ulrich Ernst Boelsen Foto: Stadtarchiv Neu-Isenburg
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