zm113 Nr. 17, 01.09.2023, (1476) 54 | GESELLSCHAFT die vor Hitlers „Machtergreifung“ einer politischen Partei oder Organisation angehörten, die von den Nationalsozialisten als „feindlich“ angesehen wurde. Zahnärzte mit einer solchen politischen Vergangenheit wurden also 1933 zu unliebsamen Personen erklärt und lebten deshalb besonders gefährlich. Sie sind zahlenmäßig häufiger als Widerstandskämpfer. Aber, wie gesagt, die Grenzen sind fließend: Auch „Widerständler“ konnten enttarnt und in der Folge zu „Staatsfeinden“ erklärt oder gar hingerichtet werden. „Staatsfeinde“ wiederum flohen zum Teil ins Ausland, um sich dort antinationalsozialistischen Gruppierungen anzuschließen und so Widerstand zu leisten. Allen hier vorgestellten Personen ist gemeinsam, dass sie in einer politisch-ideologischen Gegnerschaft zum NS-Regime standen. Welchen Beitrag kann Ihre Forschungsarbeit für die Aufarbeitung der Geschichte des zahnärztlichen Berufsstandes leisten? Groß: Sie soll vor allem das Bild vervollständigen. Natürlich war es das wichtigste Anliegen des eingangs erwähnten Forschungsprojektes, die politische Verstrickung der zahnärztlichen Berufsgruppe im „Dritten Reich“ herauszuarbeiten und so eine Aufarbeitung dieser Vergangenheit zu ermöglichen – und dazu braucht es vor allem den Blick auf zahnärztliche Täter und ihre Motive. Doch unser wissenschaftlicher Anspruch geht weiter: Wir wollen ein möglichst differenziertes und vollständiges Bild der Zahnärzteschaft im „Dritten Reich“ entwerfen. Und dazu gehört eben auch die Untersuchung der zahnärztlichen Widerstandskämpfer und politischen Gegner des NS-Regimes. Wellens: Hinzu kommt: Die von uns porträtierten Zahnärzte haben eine beeindruckende Zivilcourage gezeigt und dabei ihr Leben riskiert – und diese außergewöhnlichen Leistungen wollen wir mit der neuen Reihe würdigen. Sie verdienen es einfach, bekannt gemacht zuwerden! Die Fragen stellte Gabriele Prchala. PORTRÄTS EINER BISLANG KAUM BEACHTETEN PERSONENGRUPPE In den vergangenen Jahren wurde die Rolle der deutschen Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus erforscht. Auch in den zm erschienen einige Beiträge zu diesem Thema. Dabei lagen die Schwerpunkte der Untersuchungen einerseits auf den Tätern und andererseits auf den (meist jüdischen) Opfern des Nationalsozialismus. Weitgehend unberücksichtigt blieb bislang eine dritte, sehr viel kleinere Gruppierung: Zahnärzte, die sich im „Dritten Reich“ im Untergrund als Widerstandskämpfer betätigten und/oder ab 1933 aufgrund bestimmter Aktivitäten als politische „Staatsfeinde“ galten. Diesem kleinen Kollektiv soll in der neuen zehnteiligen zm-Reihe ein besonderes Augenmerk geschenkt werden. Wer waren diese Kollegen, die sich ab 1933 dem Widerstand anschlossen und so ihr Leben riskierten? Was waren ihre Motive, wie verhielten sie sich und welche Konsequenzen hatten ihre Aktivitäten? Und warum galten manche Zahnärzte als „Staatsfeinde“ und welche Folgen brachte eine solche Einordnung mit sich? Die Reihe porträtiert vornehmlich nichtjüdische Zahnärzte, die sich politisch subversiven politischen Gruppen anschlossen und im Untergrund gegen das NS-Regime agitierten. Zu diesen Widerstandskämpfern gehören Paul Rentsch („Gruppe Europäische Union“), Ewald Fabian („Verein sozialistischer Ärzte“), Helmut Himpel („Rote Kapelle“), Emanuel Berghoff („Volksbefreiungsarmee“ von Josip Broz Tito) oder der in dieser ersten Folge vorgestellte Ulrich Boelsen („Leuschner-Netzwerk“). Ebenso zeichnet sie das Leben von einzelnen Zahnärzten nach, die von führenden Nationalsozialisten zu politischen Gegnern erklärt wurden und aus diesem Grund um ihr Leben fürchten mussten. Oft handelte es sich um Fachvertreter, die sich in der Weimarer Republik in kommunistischen oder sozialistischen Organisationen oder in der SPD engagiert hatten. Beispiele hierfür sind der angehende Zahnarzt Hermann Ley, der vor der „Machtergreifung“ Hitlers an der Universität Leipzig die „kommunistische Studentenfraktion“ geleitet hatte und im „Dritten Reich“ mehrfach inhaftiert wurde. Besonders komplex ist die Biografie des Zahnarztes Helmuth Ellbrechter: Er gehörte dem Zirkel an, der Reichswehrgeneral Kurt von Schleicher die Durchführung eines „kalten Staatsstreichs“ nahelegte. Mit dem Ziel, den Reichstag ohne Zustimmung des Reichspräsidenten aufzulösen, um die Bildung einer Regierung Hitler zu verhindern und bei Neuwahlen eine von Strasser angeführte, mit der NSDAP konkurrierende rechte Partei aufzubauen. Schleicher schreckte schlussendlich vor der Umsetzung des Plans zurück. Dennoch geriet der Kreis in Opposition zu Hitler. Schleicher selbst wurde am 30. Juni 1934 im Zuge des „Röhm-Putsches“ getötet, während Ellbrechter der Ermordung durch eine Flucht in die Niederlande entkam. Deutlich anders gelagert waren die politischen Aktivitäten von Walter Rank und Rudi Glass: Rank wurde wegen wiederholter „staatsfeindlicher Äußerungen“ und „Heimtücke“ verfolgt und mehrfach aufgegriffen; er überlebte Inhaftierungen in Dresden, Chemnitz und Bautzen. Glass galt aufgrund seines Engagements in der SPD als politisch unliebsam, musste Gefängnisstrafen in Dresden, Berlin-Moabit und Bremen erdulden und war von 1938 bis 1945 Häftling und zahnärztlicher Gehilfe im KZ Buchenwald. Nach dem Krieg erlangte er die zahnärztliche Approbation. Er führte regelmäßig Besuchergruppen durch die „Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“. Alle vorgenannten Zahnärzte traten als Zivilisten mit ihrer Überzeugung gegen das Hitler-Regime und die NSDAP ein, vielfach unter Einsatz ihres Lebens – insofern gebührt ihnen ein besonderer Platz in der Geschichte des zahnärztlichen Berufsstandes. Dominik Groß
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