36 | POLITIK INTERVIEW MIT PROF. DR. CLARISSA KURSCHEID ZUM REFORMSTAU IM GESUNDHEITSWESEN „Der Systemwandel hat nicht stattgefunden“ Obwohl das deutsche Gesundheitssystem das zweitteuerste in Europa ist, hat sich die Lebenserwartung hierzulande im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern unterdurchschnittlich entwickelt. Zwischen dem Geld, das ins System fließt, und der Ergebnisqualität klafft eine große Lücke, sagt Gesundheitsökonomin Prof. Dr. Clarissa Kurscheid – und erklärt, was sich aus ihrer Sicht verändern muss. Frau Prof. Dr. Kurscheid, wie bewerten Sie die aktuellen Reformbemühungen im Gesundheitswesen? Prof. Dr. Clarissa Kurscheid: Ich drücke es mal so aus: Grundsätzlich dauert es circa ein Jahr vom Referentenentwurf eines Gesetzes bis zu seiner Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt. Angesichts der Tatsache, dass die aktuelle Legislaturperiode schon halb verstrichen ist, muss man sagen, dass bisher wenig passiert ist. De facto hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach – neben ein paar kleineren Gesetzen und Verordnungen – nur das Lieferengpassbekämpfungsgesetz, das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz, das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz in seiner Bilanz stehen. Der Systemwandel, der im Koalitionsvertrag vielversprechend angekündigt wurde, hat nicht stattgefunden. Ganz viele Themen sind nicht umgesetzt. Es hätte mehr passieren müssen. Welche Gründe sehen Sie dafür? Der Minister hat sich in der ersten Phase der Legislaturperiode sehr auf das Thema Corona-Pandemie kapriziert und die notwendigen strukturellen Veränderungen im Gesundheitswesen nicht parallel dazu vorangetrieben. Diese Zeit fehlt uns jetzt. Was wäre aus Ihrer Sicht ein besseres Vorgehen gewesen? Für eine gute Arbeitsgrundlage wäre es wichtig gewesen, Vertrauen unter den Akteurinnen und Akteuren im Gesundheitswesen zu schaffen und alle an einen Tisch zu bringen. Karl Lauterbach hat es vor allen Dingen versäumt, die Bundesländer mit ins Boot zu holen. Das gilt auch für den GKV-Spitzenverband und die ärztliche und die zahnärztliche Selbstverwaltung. Wie meinen Sie das? Seit Corona steht der ambulante Bereich stark unter Druck. Das wird von den Berufsverbänden immer wieder hervorgehoben. Ich würde aber die geschilderte Problemlage – mangelnde Vergütung oder Wartezeiten aufgrund mangelnder Ressourcen – infrage stellen. Wir haben genug Geld im System. Wesentlich ist aus meiner Sicht vielmehr, dass es keine optimale Zusammenarbeit zwischen dem BMG, dem GKV-Spitzenverband und den Verbänden gibt. Zum Teil kann ich die konfrontative Haltung der Ärzte und Zahnärzte gegenüber dem Bundesgesundheitsminister verstehen. Wenn ich in einer Stresssituation zunächst mehr Vergütung bekomme (unter Spahn) und diese dann doch wieder weggenommen wird (unter Lauterbach), kommt es natürlich zu Frust. Sie sagten, dass Sie den daraus resultierenden Frust nur zum Teil verstehen. Ja. Auf der anderen Seite steht für mich die Tatsache, dass es höchste Zeit für einen produktiven Dialog ist. Vor diesem Hintergrund finde ich es positiv, dass Herr Lauterbach nun im Rahmen des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes die Ärzteschaft einbinden will. Bei allen anderen Referentenentwürfen, die das Bundesgesundheitsministerium in dieser Legislaturperiode vorgelegt hat, war das bisher nicht der Fall. Das ist unglücklich. Clarissa Kurscheid hält die Professur für Gesundheitsökonomie und Institutionenökonomie an der EU|FH, Hochschule für Gesundheit, Soziales und Pädagogik, der sie gleichzeitig als Präsidentin vorsteht. Außerdem ist sie Geschäftsführerin der figus GmbH, ein privates Forschungsinstitut für Gesundheits- und Systemgestaltung. Foto: Martin Foddanu Photography zm113 Nr. 20, 16.10.2023, (1786)
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