POLITIK | 37 Unglücklich beziehungsweise unverständlich sind aus Sicht der Zahnärzteschaft vor allem die gestrichenen Leistungen bei der Parodontitis-Therapie im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Wie bewerten Sie diese Entscheidung des Bundesgesundheitsministeriums? Macht es Sinn, solche präventiven Leistungen zu kürzen? An der Stelle kann ich die Zahnärzteschaft gut verstehen. Es ist ein langer und anstrengender Weg die GKVVersicherten zu mehr Prävention hin zu bewegen. Gerade die ParodontitisTherapie ist für die Gesamtgesundheit eines jeden Einzelnen elementar, da Parodontitis der Türöffner für unterschiedliche chronische Krankheiten sein kann, folglich hätte ich es sehr sinnvoll gefunden, diese Leistung weiter als Kassenleistung im Leistungskatalog zu belassen. Die Digitalisierung ist eins der großen Reformfelder, das Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach immer wieder anführt. Wie steht Deutschland in diesem Punkt da? Ich erinnere daran, dass die elektronische Patientenakte im Jahr 2004 zum ersten Mal in einem Gesetz erwähnt worden ist. Seitdem ist viel Geld und Energie in dieses Thema geflossen, aber wir profitieren noch nicht davon. International haben wir viele Vorbilder, die zeigen, wie vorteilhaft man die ePA nutzen kann. Nur kriegen wir es hier in Deutschland anscheinend nicht hin, dieses Potenzial zu heben. Stattdessen ziehen wir uns immer wieder auf potenzielle Datenschutzprobleme zurück – sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor. Was sollte geschehen? Was es braucht – im Management der Praxen und in dem der Krankenhäuser gleichermaßen – ist ein Shift in den Köpfen hin zum digitalen Arbeiten. Der ist bisher in Deutschland nicht erfolgt. Aus meiner Sicht gelingt es nicht, den Mitarbeitenden im Gesundheitswesen die Vorteile der Digitalisierung praxisnah vor Augen zu führen und sie bei diesem Lernprozess zu begleiten. Ich habe viele Projekte zur Versorgungsforschung mit dem Fokus Digitalisierung durchgeführt und dabei zum Beispiel mit MFA zusammengearbeitet. Dabei haben wir zusammen den Ist-Prozess der Praxisabläufe angeschaut und dann gezeigt, welche Veränderungen beziehungsweise Verbesserungen mithilfe digitaler Anwendungen möglich sind. Ich denke, dass man die Digitalisierung des Gesundheitswesens nur auf diese Weise weiterbringt. Auf Sanktionen zu setzen, hat noch nie etwas gebracht. An welchen anderen Stellschrauben muss aus Ihrer Sicht im deutschen Gesundheitssystem dringend gedreht werden? Ein ganz wichtiger Punkt ist, weg von der Arztzentriertheit und hin zur Patientenzentriertheit zu kommen. Dazu gehört unter anderem, dass Ärztinnen und Ärzte einen Teil ihrer Aufgaben an qualifizierte Gesundheitsfachkräfte übertragen und sich stattdessen auf die Erstdiagnostik und komplexere Fälle konzentrieren. Dadurch, dass Versorgungsaufgaben im deutschen Gesundheitswesen kaum delegiert werden, lastet viel Druck und eine enorme Arbeitslast auf den Ärztinnen und Ärzten. Hier könnte man unter anderem durch eine weitere Akademisierung der Gesundheitsberufe und eine Stärkung der Berufe Physician Assistent oder Dentalhygiene zu einer besseren Aufteilung der Kompetenzen kommen. Davon würden alle profitieren, vor allem die Patientinnen und Patienten. Diese Veränderung ließe sich relativ unkompliziert in den Musterberufsordnungen verankern. Wo sehen Sie noch Potenzial für Verbesserungen? Zielführend für eine Qualitätsverbesserung im deutschen Gesundheitssystem wären digitale Informations- und Beratungsangebote, die die Patientinnen und Patienten viel besser begleiten und durch das Gesundheitswesen steuern. Dafür wäre auch eine Verbesserung in puncto Überweisungen wichtig. Fakt ist, dass wir nicht adäquat und qualitätsgesichert überweisen, das heißt ohne zeit- und kostenintensive Umwege über mehrere Fachärzte. Haben Sie dafür ein Beispiel? Nehmen wir an, bei einem Patienten besteht der Verdacht auf Rheuma oder eine andere Erkrankung. Ein effizientes Vorgehen wäre, wenn diese Vermutung zunächst anhand der Blutwerte oder spezieller Anamnesewerte bestätigt wird und erst im Anschluss an die erfolgte Anamnese eine Überweisung an den entsprechenden Facharzt erfolgt. Stattdessen wird in Deutschland zu häufig mit Verweis auf „fachfremde Leistung“ an einen Spezialisten überwiesen, der sich im Nachhinein vielleicht als falsche Anlaufstelle herausstellt. Hinzu kommt, dass die erhobenen Blutwerte und alle anderen medizinischen Informationen nicht in einer ePA zusammenlaufen und damit transparent für alle Fachkräfte werden. Wenn es gelänge, an diesen kleinen Stellschrauben zu drehen, könnten wir schon sehr viel Zeit und Geld sparen. Wer sollte diese zentrale Lotsenfunktion Ihrer Meinung nach übernehmen? Ob man diesen Weg über eine Hausarzt-zentrierte Versorgung oder medizinische Community Centers mit gut ausgebildeten medizinischen Fachkräften wie Community Health Nurses beschreitet, ist aus meiner Sicht eigentlich egal. Hauptsache, wir kommen schneller zu qualitätsgesicherten Ergebnissen. Das Gespräch führte Susanne Theisen. zm113 Nr. 20, 16.10.2023, (1787) Gerade die Parodontitis-Therapie ist für die Gesamtgesundheit eines jeden Einzelnen elementar, folglich hätte ich es sehr sinnvoll gefunden, diese weiter als Kassenleistung im Leistungskatalog zu belassen. Gesundheitsökonomin und Versorgungsforscherin Prof. Dr. Clarissa Kurscheid Der Shift in den Köpfen hin zum digitalen Arbeiten ist bisher in Deutschland nicht erfolgt. Gesundheitsökonomin und Versorgungsforscherin Prof. Dr. Clarissa Kurscheid
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