60 | GESELLSCHAFT zm113 Nr. 20, 16.10.2023, (1810) ANTIDISKRIMINIERUNGSSTELLE DES BUNDES „ES GEHT UM MACHT ODER KONKURRENZ“ Sexuelle Belästigung habe in erster Linie nichts mit Kontaktanbahnung oder Sexualität zu tun, stellt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) klar. Im Arbeitskontext stehe sie vielmehr im Zusammenhang mit Machtausübung und Hierarchien. Vor allem zwei Ursachen beziehungsweise Absichten könnten dabei unterschieden werden: „Einerseits werden hierarchische Arbeitsbeziehungen ausgenutzt, um sexuell zu belästigen und die eigene Macht zu demonstrieren. Bereits bestehende Ungleichheiten werden dadurch gefestigt.“ Andererseits sei sexuelle Belästigung aber oft auch ein Mittel, mit dem „Konkurrenz ausgeschaltet“ oder die Autorität einer Person untergraben werden soll. Da sich viele Betroffene nicht beschweren – aus Angst, die Situation falsch einzuschätzen oder durch eine Beschwerde Nachteile zu erfahren –, verweist die ADS immer wieder auf die Rechte nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Alle Beschäftigten haben demnach das Recht, im Betrieb bei der zuständigen Stelle Beschwerde einzulegen. Daraus dürften ihnen keine Nachteile entstehen. „Außerdem haben Beschäftigte den Anspruch auf vorbeugende und unterbindende Schutzmaßnahmen durch Arbeitgeber.“ Ergreift dieser keine wirksamen Maßnahmen, könnten Arbeitnehmer die Leistung verweigern und der Arbeit fernbleiben und weiterhin das volle Gehalt verlangen. In jedem Fall sollten Arbeitgeber vor der Leistungsverweigerung schriftlich und unter Angabe der Gründe informiert werden. Immerhin: Auf politischer Ebene tut sich langsam was. Mit seiner Entschließung „zu sexueller Belästigung in der EU und Bewertung von MeToo“ vom 1. Juni 2023 hat das Europäische Parlament die EU-Kommission beauftragt, ein standardisiertes Aktionsprotokoll zur Unterstützung aller Opfer sexueller Belästigung bereitzustellen. Weiter fordert es die Mitgliedstaaten auf, „für wirksame Meldemechanismen und -verfahren in Fällen von Belästigung in der Arbeitswelt zu sorgen und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz von Beschwerdeführern, Opfern, Zeugen und Hinweisgebern sicherzustellen". Das will auch das vor Kurzem gegründete Bündnis „Gemeinsam gegen Sexismus“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin erreichen. Dessen erklärtes Ziel ist es, sexuelle Belästigung zu erkennen, hinzusehen und wirksame Gegenmaßnahmen zu verankern. In einer Handreichung (herunterladbar unter https:// www.gemeinsam-gegen-sexismus.de/ materialien/) beschreibt das Bündnis 30 Maßnahmen gegen Sexismus am Arbeitsplatz. Und auch die ADS hat im Sommer 2023 einen Leitfaden für Arbeitgeber und Beschäftigte erstellt, der unter https://bit.ly/Leitf_Antidiskriminierung heruntergeladen werden kann. die ADS. So gaben etwa 22 Prozent der Frauen an, „unangemessene Fragen mit sexuellem Bezug zu ihrem Privatleben oder Aussehen gestellt bekommen zu haben“. 19 Prozent berichteten, am Arbeitsplatz unerwünschte körperliche Annäherungen erlebt zu haben. Ein unrühmlicher Spitzenplatz für Deutschland Weitere Untersuchungen erhärten diese Beobachtungen: So zeigte eine repräsentative Telefonbefragung von 1.531 Personen im Auftrag der ADS, die von Juni 2018 bis Mai 2019 durchgeführt wurde [Schröttle, M., Meshkova, K., Lehmann, C., 2019], dass 13 Prozent der befragten Frauen in den vergangenen drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt hatten. Konkret berichteten 62 Prozent von „unangemessenen sexualisierten Kommentare oder Witzen", 44 Prozent von „unerwünschten belästigenden Blicken, Gesten, Nachpfeifen", 28 Prozent von „unangemessenen intimen oder sexualisierten Fragen“, 26 Prozent von „unerwünschten Berührungen, Bedrängen, körperlicher Annäherung“, 22 Prozent von „unangemessenen Einladungen zu privaten Verabredungen“, 14 Prozent von „unerwünschtem Zeigen oder Aufhängen sexualisierter Bilder, Texte, Filme“, 11 Prozent von „unerwünschten Aufforderungen zu sexuellen Handlungen“, 9 Prozent von „unerwünschten belästigenden Nachrichten mit sexualisiertem Inhalt“ und 5 Prozent von „unerwünschtem Entblößen". 2018 bestätigte eine Untersuchung [dbb, 2018] die Werte für Deutschland: 26 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Männer waren betroffen. Im selben Jahr zeigte eine repräsentative Umfrage der Foundation for European Progressive Studies [Clavaud, A., Finchelstein, G., Kraus, F., 2018], dass Deutschland in puncto sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in der Europäischen Union trauriger Spitzenreiter ist. Befragt wurden mehr als 5.000 Frauen in Spanien, Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland. Hierzulande berichteten 68 Prozent der befragten Frauen, im Verlauf ihres Erwerbslebens sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt zu haben – der höchste Wert, vor Spanien (66 Prozent), Großbritannien (57 Prozent), Italien (56 Prozent) und Frankreich (55 Prozent). mg ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.
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