Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 21

zm113 Nr. 21, 01.11.2023, (1904) 50 | ZAHNMEDIZIN Wie passen Wissenschaft und Handwerk in der Zahnmedizin zusammen? Es ärgert mich immer, wenn manuelle Fähigkeiten und wissenschaftliche Medizin so in einen Gegensatz gebracht werden. Auch der Arzt benötigt vielfach manuelle Kompetenzen – die Palpation gehört zu den Basistechniken der ärztlichen Diagnostik. Ganz zu schweigen von der Chirurgie, die ohne manuelle Fähigkeiten gar nicht denkbar wäre. Der Zahnarzt als Handwerker ist ein sich hartnäckig haltendes Narrativ, das durch die moderne Wissenschaft heute längst überholt ist. Dass es von Medizinern an Hochschulen bisweilen liebevoll gepflegt wird, hat auch etwas mit der Konkurrenz um knappe Mittel zu tun: Dentisten muss man keine Forschungsgelder geben. Es geht also gar nicht um das Verhältnis von Handwerk und Medizin? Das Narrativ wird oft nur vorgeschoben. Wir waren schon immer Mediziner und die Wissenschaft hat in den letzten Dekaden eindrucksvoll bestätigen können, welchen immensen Anteil die Prozesse in der Mundhöhle an der Entstehung und Progression vieler schwerer Allgemeinerkrankungen haben. Heute wird vielfach darüber diskutiert, ob Zahnärzte nicht aktiver in die Früherkennung systemischer Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes einbezogen werden sollen, eben weil sich in der Mundhöhle frühe Hinweise erkennen lassen. Auch das schafft neue Konkurrenzen, aber die Zahnmedizin ist hier in der Offensive. Welche Innovationen werden für die Zahnarztpraxis wichtig werden? Da sehe ich als einen ganz wichtigen Meilenstein die Künstliche Intelligenz (KI). Bereits heute schon ist sie in vielen digitalen Geräten und Anwendungen integriert, angefangen beim Intraoralscanner über Planungssoftware bis hin zur KI-gestützten Kariesdiagnostik bei Röntgenbildern. In dieser Technologie steckt mit Sicherheit noch viel Potenzial, um zahnärztliche Prozesse zu verbessern und zu beschleunigen. Ein weiteres wichtiges Feld ist die Zellbiologie, da wird es um das Wachstum von Geweben gehen, beispielsweise Pulpa, Knochen, aber auch Weichgewebe. Die gesteuerte Geweberegeneration ist ein Anfang, möglicherweise werden wir aber alsbald auch Gewebe im 3-D-Drucker drucken oder auch Zähne nachwachsen lassen. Das klingt heute zwar noch arg nach Zukunftsmusik, wird aber eines Tages in der Praxis ankommen. Nun noch zu einem anderen Thema: die heute immer stärker beklagte Bürokratie. Sie sind ja auch standespolitisch engagiert im Vorstand der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg. Was hat sich hier in den vergangenen 30 Jahren verändert? Wenn Sie mich nach dem Vergleich von heute und vor 30 Jahren fragen, dann sieht das Ganze wahrlich furchterregend aus: Im Prinzip ist die Bürokratie in dieser Zeit zu einem echten Monster herangewachsen. Das sehen Sie in allen Bereichen und die aufgeblähten Verwaltungen sind ein klarer Hinweis darauf. Man kann ja heute keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, ohne ein ganzes Konvolut von Regeln zu beachten und das sorgfältigst zu dokumentieren. Ich glaube mittlerweile, dass allen Beteiligten inzwischen teilweise der Überblick verloren gegangen ist. Dadurch wird zwar einerseits der Eindruck erzeugt, auf einer eher pragmatischen Ebene könne man mit Bürokratie noch friedlich koexistieren; andererseits bleibt bei vielen Praxisinhabern das mulmige Gefühl übrig, trotzdem in der Verantwortung zu stehen für all das, was zwar selten kontrolliert, aber doch irgendwann einmal „hochkochen“ und justiziabel werden kann. Dabei sollte doch die Digitalisierung alles leichter machen … … das klingt gut, ist aber ganz und gar nicht im Interesse der im Zuge der Zeit aufgeblähten – ich nenne das mal so – Bürokratie-Industrie. Es gibt ein ganzes Geflecht aufgeblähter Verwaltungen, IT-Firmen, Zertifizierern, Beauftragten, Kontrolleuren, Dienstleistern für die Einhaltung aller möglichen Vorschriften. Diese Akteure leben von der Wertschöpfung der Gesundheitsberufe und werden alles dafür tun, dass es so bleibt. Bürokratieabbau wird ein ganz schwieriges politisches Geschäft werden. Wie soll das enden? Im schlimmsten Fall wie im alten Rom: Das Ganze wird früher oder später implodieren und man wird anschließend von vorn anfangen müssen. Das alte Rom wurde zur leichten Beute der Barbaren aus dem Osten. Um das Land so weit zu schwächen, braucht es dann doch mehr als einen Lauterbach und die Bürokratie im Gesundheitswesen (lacht). Aber der Schaden im Gesundheitswesen wäre auch schon schmerzhaft genug. Woran erkennen wir, dass der Zeitpunkt der Implosion naht? Wenn der Praxisinhaber oder die Praxisinhaberin sagt: „Ich habe keine Lust mehr. Mir reicht’s, ich mache jetzt Schluss!" Genau das passiert ja schon heute. Richtig, ich höre das inzwischen oft von Kolleginnen und Kollegen – nicht nur von den Alten, die sagen sowieso „Schluss“, sondern auch von den Jüngeren, die sagen: „Das tue ich mir nicht mehr an!". Was kann die Standespolitik hier tun? Wir müssen Vorschläge zum Bürokratieabbau erarbeiten und mit der Politik sprechen. Wir müssen deutlich machen, dass es hier nicht um Interessenpolitik geht, sondern dass die Lage sehr ernst ist. Aber ich bin optimistisch, dass wir da erfolgreich sein können. Bis vor Kurzem hat man in Berlin alle Warnungen der Wirtschaft vor einer Deindustrialisierung als Lobbypolitik abgetan – nun schwant den Verantwortlichen, dass das ein Fehler gewesen sein könnte, und es beginnt ein Umdenken. So könnte es auch im Gesundheitswesen laufen. Ich denke, dass wir im Angesicht der Krise politisch mehr Gehör finden werden. Das mag zwar noch einige Zeit dauern, aber wenn es soweit ist, sollten wir gute Vorschläge in der Tasche haben. Das Gespräch führte Benn Roolf. Die grundlegenden Leitplanken des Lehrens und Lernens dürfen nicht in Beliebigkeit zerbröseln. Prof. Dr. Elmar Hellwig

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