60 | MEDIZIN hungen zwischen UPF-Sucht und Hormonen und anderen Blutbiomarkern [Römer et al., 2023]. Diese zeigten zwar deutliche Befunde für Leptin, Ghrelin, Cortisol, Insulin und Glukose, Oxytocin, Cholesterin und Plasma-Dopamin, aufgrund kleiner Stichprobengrößen und von Variationen der untersuchten Populationen zum Adipositasstatus, Geschlecht und psychischen Gesundheitskomorbiditäten konnten jedoch keine definitiven Zusammenhänge bestimmt werden. Fazit: Während hinlängliche Beweise für süchtig machende Prozesse durch hochverarbeitete Lebensmittel in Tierexperimenten vorliegen, werden weitere Untersuchungen benötigt, um Vergleichbares für den Menschen nachzuweisen. Die Folgen des Konsums reichen bis hin zu Krebs Denn selbst bei gut untersuchten abhängig-machenden Substanzen wie Nikotin seien die genaue Dosis und das Aufnahmeniveau, ab dem die Sucht auftritt, unbekannt. Gearhardt zufolge ist das Suchtpotenzial hochverarbeiteter Lebensmittel nicht im Vorhandensein eines einzigen Inhaltsstoffs, sondern vielmehr im Zusammenspiel der Inhaltsstoffe zu suchen. Man müsse daher weiter forschen, um zu verstehen, wie Inhaltstoffe hochverarbeiteter Lebensmittel so interagieren, dass sie das Suchtpotenzial erhöhen. Inzwischen verdichten sich die Beweise, dass eine Vielzahl negativer Gesundheitseffekte mit dem Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln assoziiert ist – vom metabolischen Syndrom, Typ-2-Diabetes, Herzinfarkt oder Angina [Menichetti et al., 2023], über Adipositas und Zerebrovaskuläre Erkrankungen [Pagliai et al., 2021] und Morbus Crohn [Chen et al., 2023] bis hin zur Reduktion der kognitiven Leistungsfähigkeit [Gomes Gonçalves et al., 2022] und Depressionen [Samuthpongtorn C. et al., 2023]. Zahlreiche Studien assoziieren den Konsum zudem mit einem gesteigerten allgemeinen Krebsrisiko, etwa Eierstock- und Lungenkrebs [Chnag et al., 2023] sowie Brust-, Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs [Isaksen/Dankel, 2023] – und infolge dieser Befunde mit einer allgemein niedrigeren Lebenserwartung [Nilson et al., 2023]. Vor diesem Hintergrund schreiben Gearhardt und DiFeliceantonio in der Zeitschrift Addiction, UPFs könnten leicht anhand jener Kriterien als süchtig machend eingestuft werden, die 1988 vom Sanitätsinspekteur der USA zur Bewertung von Tabakprodukten eingesetzt wurden, um die damalige wissenschaftliche Kontroverse aufzulösen [Gearhardt/ DiFeliceantonio, 2022]. Dieser identifizierte die Suchtcharakterhaftigkeit damals anhand von drei Kriterien. Es ging um deren Fähigkeit, n eine stark kontrollierte oder zwanghafte Verwendung zu verursachen, n psychoaktive Auswirkungen auf das Gehirn und n verstärkendes Verhalten auszulösen. Ähnliche Beweise, argumentieren die Wissenschaftler, gebe es bereits für hochverarbeitete Lebensmittel, und verweisen auf die Fülle an Zusätzen, mit denen UPFs und deren spezifische somatosensorische Eigenschaften (zum Beispiel Geschmack, Geruch, Textur und Mundgefühl) optimiert werden. Gleichzeitig werden häufig hohe Dosen verarbeiteter Kohlenhydrate und zugesetzter Fette kombiniert, was womöglich eine Schlüsselrolle bei der Verstärkung der süchtig machenden Natur von UPFs spielt. Industrielle Zusatzstoffe wie Emulgatoren, Geschmacksverstärker und künstliche Aromen erinnerten an die zum Teil hunderte Zusatzstoffe, mit denen die Industrie das Suchtpotenzial von Zigarettentabak erhöhe. Gearhardt und DiFeliceantonio warnen davor, dass nun eine Phase der gezielten Desinformation bevorsteht, in der zm113 Nr. 21, 01.11.2023, (1914) WAS SIND „HOCHVERARBEITETE LEBENSMITTEL“? 2009 verwendete Carlos Augusto Monteiro von der Universität São Paulo erstmals in der Wissenschaft den Begriff Hochverarbeitete Lebensmittel (Ultra-processed foods, kurz: UPFs). In den Folgejahren änderten Monteiro und seine Co-Autoren die Definition mehrfach, bis sie 2017 die NOVA-Klassifikation (portugiesisch: „Neu") publizierten. Tatsächlich unterscheidet sich NOVA von bestehenden Lebensmittel-Klassifizierungen. Statt Nahrungsmittel nach ihrem Gehalt an Energie, Salz, Fett oder Zucker einzugruppieren, orientiert sich das vierstufige System am Verarbeitungsgrad. Es löst damit das Problem, dass sich bei herkömmlichen Lebensmittelgruppierungen in der Rubrik „Getreideprodukte“ zum Beispiel sowohl Vollkornbrot wie auch gezuckerte Cornflakes unterbringen lassen, obwohl beide sehr unterschiedlich gesund sind. Nach der NOVA-Klassifikation gibt es vier Stufen: n Stufe 1: „unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel“, zum Beispiel Obst und Gemüse, Fleisch, Fisch, Eier oder Milch n Stufe 2: „verarbeitete Zutaten“, die aus natürlichen Lebensmitteln gewonnen und für die Zubereitung von Speisen verwendet werden, zum Beispiel Öl, Mehl, Salz oder Zucker n Stufe 3: „verarbeitete Lebensmittel“, konservierte, eingelegte oder fermentierte Lebensmittel, die nur wenige Zutaten enthalten, zum Beispiel geräucherter Fisch, saure Gurken oder Dosentomaten n Stufe 4: „hochverarbeitete Lebensmittel“, die viele Verarbeitungsschritte durchlaufen haben und viele Zutaten und Zusatzstoffe enthalten, zum Beispiel Kartoffelchips, Tiefkühlpizza, Softdrinks oder Tütensuppen Foto: Lucio - stock.adobe.com
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