Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 01-02

MEDIZIN | 67 dentherapie in der modernen Medizin ihren Durchbruch [Courtenay, 1999; Remba et al., 2010]. In den 1930er-Jahren erschienen zu diesem Thema zahlreiche Publikationen. Als aber das 1928 von Alexander Fleming entdeckte Penicillin seinen Siegeszug antrat, brach das Interesse an dieser „Biochirurgie“ schlagartig ein [Sherman & Pechter, 1988; Wollina, 2019]. Im heutigen Kontext der weltweit vermehrt auftretenden Antibiotika-Resistenzen scheint die Madentherapie wieder neue Relevanz zu erhalten. Die unter sterilen Bedingungen gezüchteten Maden der Goldfliege Lucilia sericata eignen sich für die Therapie besonders gut. Dabei werden die Maden in einem geschlossenen Verband auf die Wunde aufgebracht. Da die Maden keine Zähne besitzen, sezernieren sie ihren proteolytisch wirkenden Speichel (Carboxypeptidase A und B, Leucin-Aminopeptidase, Kollagenase und Serin-Proteasen) auf die Wunde und verflüssigen hoch-selektiv das nekrotische Gewebe [Horobin et al., 2003; Prete, 1997]. Anschließend saugen sie ihre Nahrung auf, wodurch die Maden schnell wachsen und die Verbände alle drei bis vier Tage gewechselt werden müssen. Des Weiteren fördern die antiinfektiös wirkenden Substanzen Phenylacetat, Phenacetaldehyd und Allantoin aus dem Speichel der Maden den Heilprozess. Allantoin verstärkt die Zellproliferation und Epithelbildung, wobei nekrotisches Gewebe entfernt wird. Die mechanische Stimulation durch hakenförmige Mandibeln und Stacheln stimuliert zusätzlich die Wundheilung [Amrith et al., 2013; Dauros Singorenko et al., 2017]. Miss- oder Schmerzempfindungen werden nur selten während der Anwendung beschrieben und machen in der Regel keinen Therapieabbruch erforderlich. Erfolgt die Anwendung der Madentherapie geschlossen in einem Wundverband, erhöht dies die Akzeptanz der Patienten – die in unserer Erfahrung immer hoch war. Diskussion Die nekrotisierende Fasziitis stellt mit einer Inzidenz von 0,24 pro 1.000.000 Einwohnern pro Jahr ein äußert seltenes Krankheitsbild dar. Im September 2023 berichteten allerdings die augenärztlichen Kollegen der LMU München in einer Fallserie über ein stark gehäuftes Auftreten genau dieses Krankheitsbildes an ihrer Poliklinik [Schuh A et al., 2023]. Sie behandelten zwischen Januar und März 2023 fünf Patienten, die an einer nekrotisierenden Fasziitis litten. Alle Patienten waren männlich, einer litt an Diabetes, bei drei Männern waren Gaseinschlüsse radiologisch nachweisbar und vier entwickelten im Verlauf eine Sepsis. Mikrobiologisch waren in allen fünf Fällen – anders als im vorliegenden Fall – Gruppe-A-Streptokokken (GABHS) nachweisbar. Am 15. Dezember 2022 berichtete die WHO zudem über ein vermehrtes Auftreten von Scharlach und GABHS [WHO, 2022]. Auch in Deutschland sind laut RKI A-Streptokokken vermehrt registriert worden [RKI, 2022]. Die während der COVID-19-Pandemie eingehaltenen weltweiten Quarantänemaßnahmen könnten das Immunsystem für diese Erreger anfälliger gemacht haben, so dass es nun zu einem vermehrten Auftreten kommt [Schuh A et al., 2023]. Im Unterschied zu den Kollegen in München führten wir kein klassischchirurgisches Wunddebridement durch, sondern erreichten die Entfernung des nekrotischen Gewebes und die Eindämmung der Progression mit der beschriebenen Madentherapie (bioablative Nekrektomie durch Lucilia sericata) in Kombination mit einer intensivierten intravenösen Antibiotikatherapie. Wir sahen einen Vorteil in der „Biochirurgie“ durch den minimalinvasiven Ansatz. Aufgrund der ausgedehnten lividen Verfärbung durch die Mikrothromben und die Nähe sowohl zum Ober- als auch zum Unterlid, hätte ein primär chirurgisch-resektiver Ansatz zu einer deutlichen Mutilation des Patienten geführt. Wir befürchteten aufgrund des entgleisten Diabetes und der Leberzirrhose weitere Wundheilungsstörungen postoperativ. Die Maden-Therapie stellt in unseren Augen jedoch einen besonderen Therapieansatz und nicht das Regelvorgehen dar. Sie sollte in unseren Augen bei der nekrotisierenden Fasziitis immer nur dann zur Anwendung kommen, wenn es die Ausdehnung des Befunds noch zulässt. In unserem Fall lag zwar ein ausgedehntes und mit kritischen anatomischen Strukturen beteiligtes Wundareal vor, die Infektion lag jedoch lediglich im Bereich der superfizialen, gut durchbluteten Gesichtsweichteile und war daher der MadenTherapie zugänglich. Eine Beteiligung tieferer Strukturen (Orbita, Muskelnekrosen) war CT-morphologisch vorab ausgeschlossen worden. Zudem sind engmaschige Visiten gerade zu Beginn obligat, um bei weiterem Progress unter Maden-Therapie die resektiv-chirurgische Standardtherapie zügig nachziehen zu können. Generell entscheidend sind daher die rasche Diagnosestellung und der unverzügliche Start des Wunddebridements, um die Bioverfügbarkeit der hochdosierten intravenösen Antibiotikatherapie im betroffenen Hautareal und das Gesamtergebnis für die betroffenen Patienten zu verbessern. Aufgrund der aktuell vermehrt auftretenden Fälle und der Dringlichkeit in der Diagnosestellung wollen wir mit dem vorliegenden Fallbericht die Zahnärzteschaft für das ansonsten seltene Krankheitsbild der nekrotisierenden Fasziitis sensibilisieren. Zahnärzte übernehmen die wichtige ambulante Betreuung von Patienten vor Ort und sind meist erster Ansprechpartner für gesundheitliche Fragen im Kopf-HalsBereich, so dass dadurch die zeitnahe Vermittlung an Kliniken erfolgen kann. zm114 Nr. 01-02, 16.01.2024, (65) ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.

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