GESELLSCHAFT | 21 Molaren 3,0 und bei den Frontzähnen 2,8. Es gab auch einen Fall von gefeilten Frontzähnen. Mit dem Zahnstocher gegen Approximalkaries Das hohe Auftreten von Wurzelkaries in der untersuchten Wikingerpopulation könnte den Autoren zufolge mit einer Parodontalerkrankung zusammenhängen. Wahrscheinlich wurden außer der Reinigung mithilfe von Zahnstochern keine weiteren Mundhygienemaßnahmen durchgeführt, so dass der Biofilm über längere Zeit auf den Wurzeloberflächen verbleiben konnte. Große kariöse Läsionen deuten für die Wissenschaftler darauf hin, dass diese untersuchten Wikinger unter heftigen Zahnschmerzen gelitten hatten, da die Karies bis in die Nähe der Pulpa vorgedrungen war. Wahrscheinlich blieben auch Speisereste in den offenen kariösen Stellen stecken, was zu Nahrungseinlagerungen und Beschwerden führte. Bei mehreren Individuen konnte allerdings ein Abrieb wie von Zahnstochern festgestellt werden, was zeigt, dass man versuchte, Speisereste aus den Zwischenzahnräumen zu entfernen. „Es gibt mehrere Anzeichen dafür, dass die Wikinger ihre Zähne bearbeitet haben, darunter Hinweise auf die Verwendung von Zahnstochern, das Feilen der Vorderzähne und sogar die zahnärztliche Behandlung von Zähnen mit Infektionen“, bekräftigt Erstautorin Carolina Bertilsson. Ins Auge fielen den Forschern dabei vor allem Molaren mit gefeilten Löchern von der Zahnkrone bis zur Pulpa. Mit diesem Eingriff sollte offenbar der Druck verringert werden, um die starken Zahnschmerzen aufgrund der Infektion zu lindern. „Dies sind interessante und wichtige Befunde, die darauf hindeuten, dass die Wikinger in dieser Population komplexere Eingriffe bei Zahnerkrankungen vornahmen als das bloße Ziehen von schmerzenden Zähnen“, schreiben die Autoren. Diese Zahnbehandlungen, die unseren heutigen Methoden „nicht unähnlich“ seien, deuten ihrer Ansicht darauf hin, dass die Wikinger ein größeres Wissen über Zähne besaßen als angenommen. Ein kleiner Teil der Population wies des Weiteren außergewöhnlich viele kariöse Läsionen auf, während die Mehrheit kariesfrei war oder eine oder nur ein paar Läsionen besaß. „Diese Polarisierung der Kariesprävalenz ist hochinteressant, da sie auch in modernen Populationen zu beobachten ist und darauf schließen lässt, dass einige Individuen eine größere Anfälligkeit für die Karieserkrankung haben“, betonen die Forscher. Die große Anzahl verlorener Zähne und die wenigen anfänglichen kariösen Läsionen geben für sie zugleich Aufschluss über das Wesen der Karieserkrankung, wenn sie unbehandelt bleibt. Die Wisenschaftlerinnen und Wissenschaftler nennen bezüglich der Studie einschränkend die große Zahl der verlorenen Zähne in dieser Population, insbesondere der postmortale Verlust, als Fehlerquelle bei der Bewertung der Kariesprävalenz: „Da dieses Problem in der zahnmedizinischen Anthropologie aber weithin anerkannt ist, wurde in der Literatur versucht, Modelle zur Korrektur der Verzerrung durch verlorene Zähne bei der Bewertung der Kariesprävalenz in archäologischen Populationen zu entwickeln.“ ck Die Studie: Bertilsson C, Vretemark M, Lund H, Lingström P (2023): Kariesprävalenz und andere zahnpathologische Erkrankungen bei Wikingern aus Varnhem, Schweden. PLoS ONE 18(12): e0295282. https:// doi.org/10.1371/journal.pone.0295282 zm114 Nr. 03, 01.02.2024, (123) ESSEN UND TRINKEN BEI DEN WIKINGERN Die meisten schwedischen Wikinger, auch die aus Varnhem, lebten in bäuerlichen Gemeinschaften. Ihre Ernährung war stark saisonabhängig und umfasste Fleisch wie Rind, Schwein und Hammel. Fisch wurde ebenso verzehrt wie Milchprodukte von den Nutztieren, Brot und Brei sowie Gemüse wie Hülsenfrüchte (graue Bohnen und Saubohnen), Kohl, Rüben und Lauch. Die Wikinger aßen auch Haselnüsse und Pilze. Fermentierbare Kohlenhydrate kamen nur aus drei natürlichen Quellen: Früchte/Beeren, Honig und Malz. Das wichtigste Getränk war Bier, das allen Gesellschaftsschichten zur Verfügung stand, aber man trank auch Milch und Met. Obwohl in der Wikingerzeit Brunnen genutzt wurden, taugte das Wassers ohne Aufbereitung nicht zum Trinken. Die Kohlenhydrate nahm man in Form von Gerste, Weizen, Hafer, Roggen und Erbsen zu sich, die zu Brot, Brei und Suppe verarbeitet wurden. Die Grobkörnigkeit der Nahrung trug zu den Abnutzungserscheinungen an den Zähnen bei. Der hohe Verzehr stärkehaltiger Nahrungsmittel in Verbindung mit mangelnder Zahnpflege und -hygiene erklären teilweise das Auftreten von Karies in dieser Bevölkerung. Den Forschern zufolge ist es allerdings unmöglich zu sagen, ob die Wikinger zusätzliche kariogene Nahrungsmittel, die für diese Zeit und diesen Ort ungewöhnlich sind, erworben und konsumiert haben. Aufgrund der multifaktoriellen Ätiologie der Krankheit sei es jedoch wichtig, den Zusammenhang mit Speichel, Mikroflora, Hygiene, Genetik, Kultur und Physiologie zu berücksichtigen. Auch Umweltfaktoren wie Fluorid im Trinkwasser könnten einen Einfluss auf die Kariesprävalenz haben. Oben: Eine Zahnreihe mit deutlichen Anzeichen dafür, dass die Person Zahnstocher benutzt hat. An diesen Stellen wurden keine kariösen Läsionen gefunden. Unten: gefeilte Vorderzähne. Der Zweck des Akts ist unklar, möglicherweise handelt es sich um ein Identitätsmerkmal der Männer. Foto: Carolina Bertilsson
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