Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 03

62 | GESELLSCHAFT WIDERSTANDSKÄMPFER UND „STAATSFEINDE“ IM „DRITTEN REICH“ Rudolf Glass (1890–1966) – „Staatsfeind“ im „Dritten Reich“ und in der DDR Dominik Groß Der Stuckateur und spätere Zahnarzt Rudolf Glass übte sowohl am NS-Staat als auch an der DDR politische Kritik – und musste hierfür in beiden Systemen mit langjährigen Haftstrafen bezahlen. Der vorliegende Beitrag liefert Hintergründe und Details zu einer singulären und zugleich sehr bedrückenden Biografie. Albert Rudolf Glass (Rufname: Rudi) wurde am 5. Dezember 1890 im preußischen Königsberg (heute: Kaliningrad in Russland) geboren [Personenstandsregister R. Glass, 1890 und 1914]. Er war ein unehelicher Sohn der Plätterin (heutige Bezeichnung: Putz- und Waschfrau) Herta Glass. Rudi wurde evangelisch getauft, wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf und erlernte zunächst den Beruf des Stuckateurs und Bildhauers. Er wurde in Schönfließ im Kreis Königsberg wohnhaft und heiratete am 23. Oktober 1914 in Königsberg die Protestantin Luise Johanna Luise Johanna Frida Bernhardt (geb. 1895). Diese war die Tochter eines Baders und Barbiers und stammte aus Berlin. Zum Zeitpunkt der Heirat war die Mutter von Glass bereits verstorben. Das Ehepaar Glass bekam eine gemeinsame Tochter namens Irma Glass, von der lediglich bekannt ist, dass sie 1938 in Königsberg in der Fleischbänken Straße lebte [Arolsen Archives R. Glass, 1890]. In einer späteren Häftlings-Personalkarte ist die Zahl von Glass’ Kindern mit „2“ angegeben (Abbildung 1) – hierzu liegen jedoch keine weiteren Informationen vor. Die Ehe von Rudolf und Luise Glass hielt knapp neun Jahre – sie wurde am 27. Juli 1923 rechtskräftig geschieden und Rudolf Glass ging nachfolgend keine eheliche Bindung mehr ein [Personenstandsregister R. Glass, 1890 und 1914]. Bereits 1912 trat Glass der SPD bei. Von 1914 bis 1918 diente er als Soldat im Ersten Weltkrieg und wurde schlussendlich nach mehrmaliger Verwundung als dienstuntauglich entlassen. Aus dieser Zeit resultierte eine Schussnarbe an der rechten Schulter (Abbildung 1). Offenbar sammelte Glass in der Folgezeit einzelne fachliche Erfahrungen im Bereich der Zahntechnik oder Zahnheilkunde – womöglich bei seinem Schwiegervater –, ohne sich jedoch für die Tätigkeit als Zahnbehandler förmlich zu qualifizieren. Frühzeitig positionierte er sich gegen die NS-Ideologie Glass zog – wohl in den frühen 1920erJahren – nach Braunschweig und wurde im Stadtteil Querum ansässig. Dort wurde er noch in den 1930er-Jahren mit dem Beruf Stuckateur (gelegentlich auch Bildhauer) geführt. Dokumentiert ist zudem, dass er in der Weimarer Republik in der Zeit von 1927 bis 1933 als Leiter der Geschäftsstelle Braunschweig des „Deutschen Freidenkerverbandes“ fungierte und zeitweilig zudem Stadtverordneter der SPD war [Personenstandsregister R. Glass, 1890 und 1914]. Mit den Mitgliedschaften in den besagten Organisationen positionierte er sich demokratisch und humanistisch klar gegen den Nationalsozialismus und die NS-Ideologie. Mit dem Machtwechsel Ende Januar 1933 galt Glass dann aufgrund seiner politischen Orientierung als unliebsam. Die Nationalsozialisten gingen sowohl gegen die Sozialdemokraten als auch gegen die Freidenker vor. Die SPD ereilte am 22. Juni 1933 ein endgültiges Verbot. Aufgrund der Einordnung als „staats- und volksfeindliche“ Partei wurden ihren Mitgliedern sämtliche politischen Aktivitäten untersagt. Im selben Jahr wurden auch alle Freidenker-Vereinigungen in Deutschland aufgelöst und deren Vermögensbestände enteignet, womit Glass zugleich seine Anstellung als Geschäftsführer einbüßte. Zudem wurde Glass im Jahr 1933 erstmals kurzzeitig in „Schutzhaft“ genommen, dann jedoch wieder entlassen. Anschließend hielt er sich mit fachfremden Hilfstätigkeiten über Wasser. Doch am 11. August 1934 wurde er erneut inhaftiert. Nun folgte eine insgesamt vierjährige Gefängnisstrafe, die er in Dresden, Berlin-Moabit und ab dem 28. Februar 1935 in Bremen absaß; am 12. Dezember 1935 wurde zudem seine zm114 Nr. 03, 01.02.2024, (164) Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees des UK Aachen Universitätsklinikum der RWTH Aachen University MTI 2, Wendlingweg 2, 52074 Aachen Foto: UK Aachen ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.

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