GESELLSCHAFT | 65 maßnahmen hervor [Kogon, 1974, 140; ähnlich: Pukrop, 2015]. Dennoch entging er nach 1945 einer Verurteilung und konnte seine zahnärztliche Laufbahn in der Bundesrepublik fortsetzen: Mitte der 1950er-Jahre ließ er sich in eigener Praxis in Wilhelmshaven (Rheinstraße) nieder. Ebenda praktizierte er mindestens bis zum Jahr 1978 [Groß, 2024]. In seine von der Roten Armee besetzte preußische Heimat konnte Glass nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nicht zurückkehren. Er verblieb vielmehr in der Region um Weimar in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) (Abbildung 2) und engagierte sich wieder im politischen Bereich – ähnlich wie Hermann Ley (1911–1990), der ebenfalls in dieser Reihe besprochen wurde [Groß/Wellens, 2023]. Bereits am 13. April 1945 trat er als Mitunterzeichner des „Buchenwalder Manifests der demokratischen Sozialisten“ hervor. Dort hieß es: „Wir haben Gefängnis, Zuchthaus und Konzentrationslager ertragen, weil wir glaubten, auch unter der Diktatur für die Gedanken und Ziele des Sozialismus und für die Erhaltung des Friedens arbeiten zu müssen. Im Zuchthaus und Konzentrationslager setzten wir trotz täglicher Bedrohung mit einem elenden Tode unsere konspirative Tätigkeit fort. Durch diesen Kampf ist es uns vergönnt gewesen, menschliche, moralische und geistige Erfahrungen zu sammeln, wie sie in normalen Lebensformen unmöglich sind. Vor dem Schattengesicht der Blutzeugen unserer Weltanschauung, die durch die hitleristischen Henker gestorben sind, wie auch in der besonderen Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder halten wir uns deshalb für berechtigt und verpflichtet, dem deutschen Volke zu sagen, welche Maßnahmen notwendig sind, um Deutschland aus diesem geschichtlich beispiellosen Zusammenbruch zu retten und ihm wieder Achtung und Vertrauen im Rate der Nationen zu verschaffen. 1. Vernichtung des Faschismus […], 2. Aufbau der Volksrepublik […], 3. Befreiung der Arbeit […], 4. Sozialisierung der Wirtschaft […], 5. Friede und Recht […], 6. Neue Humanität […], 7. Sozialistische Einheit“ [Stiftung Gedenkstätten, 2024]. 1949 – im Alter von 59 Jahren – erlangte er die Approbation Glass trat nun dem „Bund demokratischer Sozialisten in Thüringen“ (der in der SPD aufging) bei und wurde 1946 Mitglied der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED). Letztere war im April 1946 aus der Zwangsvereinigung von (Ost-)SPD und KPD entstanden. Auch beruflich orientierte er sich neu: Offenbar war durch seine Tätigkeit auf der Zahnstation in Buchenwald sein Interesse an der Zahnheilkunde geweckt worden. Jedenfalls bemühte er sich in diesen Jahren um eine (in ihrem Umfang nicht genau bekannte) Nachqualifikation in der Zahnmedizin und erlangte 1949 die zahnärztliche Approbation. Dabei kam ihm zugute, dass die SBZ beziehungsweise die DDR im Rahmen einer Übergangsregelung just 1949 die Aufnahme der nicht-approbierten Zahnbehandler – der sogenannten Dentisten – in den zahnärztlichen „Einheitsstand“ ermöglichte; dementsprechend waren die Hürden zur Aufnahme in die Zahnärzteschaft in jener Zeitphase für Nicht-Approbierte besonders niedrig [Groß, 2019 und 2023]. Von 1949 bis 1960 war Glass dann als Betriebszahnarzt im Mähdrescherwerk in Weimar tätig. Glass wohnte in jener Zeit in Weimar in der Kühnstraße [DZA, 1957]. Neben seiner zahnärztlichen Tätigkeit engagierte er sich in der Öffentlichkeits- und Erinnerungsarbeit: Er führte Besuchergruppen durch das ehemalige KZ Buchenwald, das in der DDR sukzessive zu einer Mahn- und Gedenkstätte umgestaltet wurde, und erzählte dort von seinen Erlebnissen und Erfahrungen. Zudem verfasste er Beurteilungen zu Nationalsozialisten, mit denen er im KZ zu tun hatte. So stellte er dem Zahnarzt Hanns Fischer (1901–1977) ein entlastendes Zeugnis aus. Fischer war im „Dritten Reich“ in der Waffen-SS aktiv und auch im KZ Buchenwald tätig gewesen und befand sich nach 1945 in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft; in dieser Situation bescheinigte ihm Glass einen menschenfreundlichen Umgang mit den Gefangenen [StadtA Gotha, 1.2./85]. Doch in den 1950er-Jahren geriet Glass auch zur DDR in einen zunehmenden Gegensatz [Röll, 2000; Koch/Wohlfeld, 2010]: Er äußerte – auch im Mähdrescherwerk – Kritik an der Politik der DDR-Regierung und trat 1953 aus der SED aus. 1960 spitzte sich die politische Situation zu: Glass wurde in jenem Jahr aus politischen Gründen verhaftet. Es folgten Verhöre durch die Staatssicherheit und die Beschlagnahmung sogenannter „DDR-feindlicher Schriften“ von Glass. Noch im selben Jahr wurde er wegen des Vorwurfs der Bildung einer „staatsfeindlichen Gruppe“ im Mähdrescherwerk zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ab 1960 saß Glass in der Strafanstalt Torgau ein, aus der er 1965 entlassen wurde. Doch die wiedererlangte Freiheit konnte er nur kurz genießen. Er verunglückte am 7. März 1966 bei einem Arbeitsunfall in seinem Fotolabor in Weimar im Alter von 75 Jahren. Glass gehört aus heutiger Sicht zweifellos zu den tragischen Figuren der deutschen Zahnheilkunde des 20. Jahrhunderts. Er musste letztlich rund 16 Jahre seines Lebens in Haft zubringen und galt hierbei in zwei politisch konträren diktatorischen Systemen – dem NS-Staat und der DDR – als „Staatsfeind“. zm114 Nr. 03, 01.02.2024, (167) ZU UNSERER REIHE ZAHNÄRZTE ALS WIDERSTANDSKÄMPFER UND „STAATSFEINDE“ IM DRITTEN REICH 1. zm 17/2023: Ulrich Boelsen 2. zm 19/2023: Hermann Ley 3. zm 21/2023: Paul Rentsch 4. zm 23–24/2023: Helmuth Ellbrechter 5. zm 1-2/2024: Emanuel Berghoff 6. zm 3/2024: Rudi Glass 7. zm 5/2024: Helmut Himpel 8. zm 7/2024: Walter Rank 9. zm 9/2024: Ewald Fabian 10. zm 11 / 2024: Streitfälle (Otto Berger & Karl Eisenreich)
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