46 | GESELLSCHAFT durfte das Paar aufgrund der damaligen „Rassengesetze“ nicht heiraten [Bezirksamt, 2012; Köhn, 1994; Hennig, 1999]. Nach der Verlobung zog Terwiel in Himpels Wohnung [Kirchhoff/Heidel, 2016] in der Lietzenburger Straße 72 in Berlin-Charlottenburg [Bezirksamt, 2012]. In der Folgezeit druckten und verbreiteten Himpel und Terwiel Flugblätter und Schriften, darunter die berühmte Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen (1878–1946), der im Sommer 1941 die systematischen Morde an psychisch Kranken anprangerte und dazu aufrief, diese Verbrechen zu stoppen [Köhn, 1994]. Darüber hinaus halfen sie Juden, sich zu verstecken und besorgten gefälschte Papiere und Lebensmittelkarten für Personen, die sich der Deportation entzogen hatten und untergetaucht waren [Bundeszentrale für politische Bildung, 2016; Hennig, 2020]. Für geheime Treffen stellte er seine Praxis zur Verfügung Himpel war nach heutiger Kenntnis – neben dem Dentisten Paul Rentsch (1898–1944) [Wellens/Groß, 2023] – der einzige nichtjüdische Zahnbehandler in Berlin, der sich im politischen Widerstand betätigte [Köhn, 1994]. Er konnte aufgrund seines Berufs spezifische Aktivitäten ergreifen [Bezirksamt, 2012; Hennig, 2020; Lutze, 2016; Schwarz, 2022]: So stellte er seine Praxisräume für geheime Treffen seiner Widerstandsgruppe zur Verfügung. Er machte zudem Hausbesuche und versorgte jüdische Patienten – auch solche, die weit entfernt wohnten – kostenlos in deren Wohnungen, nachdem diese seine Praxis nicht mehr aufsuchen konnten. Außerdem nahm er Einfluss auf Untersuchungen zur Wehrtauglichkeit und verhalf so manchen zu einer Befreiung von der Wehrpflicht. Überdies versuchte er, weitere Personen für die Arbeit im Widerstand zu gewinnen. So gelang es ihm Ende 1941, den Pianisten Helmut Roloff (1912–2001) anzusprechen. Jener entstammte einer bekannten Professorenfamilie in Gießen. Die Eltern waren erklärte Gegner der nationalsozialistischen Ideologie. Roloff galt als außergewöhnlich musikalisch. Im Jahr 1935 immatrikulierte sich Roloff an der Berliner Hochschule für Musik. Dort bekam er den politischen Wandel deutlich mit. Bereits 1933 hatte der Präsidialrat der Reichsmusikkammer Fritz Stein (1879–1961) die Devise ausgegeben: „Nicht Artisten wollen wir heranzüchten, sondern deutsche Künstler“ [Tagesspiegel, 2012]. Dementsprechend waren der „Lehrkörper“ im Sinne der Rassenideologie „arisiert“ und jüdische Künstler und Musikpädagogen vertrieben worden. Doch zunächst verhielt sich Roloff angepasst: Nach dem Studium der Musik begann er als Dozent am KlindworthScharwenka-Konservatorium zu arbeiten und gab Konzerte. Erst als er im Winter 1941 auf den Musikliebhaber Himpel traf, wurde er Teil der Widerstandsaktionen der „Roten Kapelle“ [Tuchel, 1993]. Terwiel hatte unterdessen Arbeit als Schreibkraft in einem französischschweizerischen Textilunternehmen gefunden [Bezirksamt, 2012; MeyerWilmes, 2023]. Mit ihrer Schreibmaschine vervielfältigte sie weitere Flugblätter der „Roten Kapelle“, darunter die mit „AGIS“ unterzeichnete Flugschrift „Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“ im Januar 1942 [GDW Terwiel, 2012; Hennig, 1999]. AGIS war zum einen der Name eines spartanischen Königs und bedeutet zum anderen auf lateinisch den Imperativ „Handele!“. Ziel des Flugblatts war die Aufklärung der Bevölkerung über die Grausamkeiten des Regimes. Am 17. und 18. Mai 1942 nahm sie zudem an einer Zettelklebeaktion gegen die nationalsozialistische Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ teil [GDW Terwiel, 2012]. Im Herbst 1942 wurden zahlreiche Mitglieder der „Roten Kapelle“ von der Gestapo entdeckt und aufgegriffen. Bis 1943 wurden insgesamt mehr als 100 Mitglieder des illegalen Netzwerks festgenommen und in die Gewalt der Gestapo-Sonderkommission gebracht. Besagte Sonderkommission war vom Reichssicherheitshauptamt speziell für die „Rote Kapelle“ eingerichtet worden. Nach Abschluss der Untersuchungen wurden 56 Frauen und Männer in mehreren Prozessen vor dem Reichskriegsgericht und in zusätzlichen Verfahren vor dem Volksgericht zum Tod verurteilt. Das Paar wurde festgenommen und hingerichtet Auch Himpel und Terwiel wurden „enttarnt“: Am 17. September 1942 wurde das Paar in der gemeinsamen Wohnung in der Lietzenburger Straße von Mitarbeitern der Gestapo festgenommen. Am 26. Januar 1943 erging durch das Reichskriegsgericht in beiden Fällen ein Todesurteil wegen „Landesverrats“. Terwiel war zunächst im Frauengefängnis an der Kantstraße 79 inhaftiert; von dort aus wurde sie am 3. Mai in das Lazarett des Untersuchungsgefängnisses Moabit transferiert [Bezirksamt, 2012]. Himpel wurde am 13. Mai 1943 hingerichtet. Zwei Tage vor seinem gewaltsamen Tod verfasste er noch einen Abschiedsbrief an die Eltern seiner Verlobten. Obwohl er sich seines Schicksals bewusst war, strahlt sein Schreiben eine bemerkenswerte Zuversicht und Gottvertrauen aus. So notierte er: zm114 Nr. 05, 01.03.2024, (336) Sarah Wellens Universitätsklinikum der RWTH Aachen University MTI 2 Wendlingweg 2, 52074 Aachen Foto: privat Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Dr. phil. Dominik Groß Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees des UK Aachen Universitätsklinikum der RWTH Aachen University MTI 2 Wendlingweg 2, 52074 Aachen Foto: UK Aachen
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