TITEL | 49 werden, wenn es um die Reaktion auf Verletzungen und vor allem auf Vernachlässigung geht. Weitere Möglichkeiten für den Zahnarzt sind im Bundeskinderschutzgesetz genauer geregelt, beispielsweise in § 4 die Beratung und Übermittlung von Informationsweitergaben durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung, ein Aspekt, der für die Zahnärzte in der täglichen Praxis von Bedeutung ist. Hier ist auch für die Zahnärzte ein Weg aufgezeigt, der bei Erkennen der Kindeswohlgefährdung gegangen werden könnte. Eine hervorragende Handlungsempfehlung ist die S3-Leitlinie „Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie)", die sowohl die Erkennbarkeit als auch die Verhaltensstrategien für die Zahnmedizin aufzeigt. Den medizinischen Berufen, zum Beispiel in der Kinderzahnheilkunde, kommt dabei eine besondere Verantwortung zu, was auch in den Heilberufegesetzen verankert ist [BlnHKG, 2018]. Erfreulicherweise ist die konkrete Ausprägung in der Kinderschutzleitlinie aus dem Jahr 2019 von den verantwortlichen Gruppen fachlich gut und detailliert beschrieben. Gerade die Ausweitung der zahnärztlichen Früherkennungsuntersuchung vom ersten Zahn an (FU1a-c) und die zahnärztlichen Reihenuntersuchungen in Kindergärten und in Schulen bieten verbesserte Chancen einer rechtzeitigen Erfassung und Korrektur, was auch in der Kinderschutzleitlinie explizit ausgewiesen ist [Kinderschutzleitlinie, 2019]. Allerdings wäre hier die verpflichtende Teilnahme zum Beispiel bei den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen notwendig, um Vermeidungsstrategien von Sorgeberechtigten zu verhindern. Auf jeden Fall müssen sich die Zahnärzte viel intensiver als bisher mit dieser Gesamtproblematik auseinandersetzen. Die Erkennbarkeit und das Vorgehen bei Vernachlässigung der Mund- und Zahnhygiene müssen stärker in den Fokus der zahnärztlichen Betreuung von Kindern und Jugendlichen rücken. Die Zahnärzte müssen den Mut und die Zeit aufbringen, bei dieser Art von Gewalteinwirkungen und bei Vernachlässigungen zu reagieren. Bisher ist das noch nicht in ausreichendem Maße erkennbar. Karies und Kindeswohl Kinderzahnheilkunde muss sich am häufigsten mit Vernachlässigung aufgrund von fehlender Mundhygiene bei gleichzeitig hohem Kohlenhydratkonsum auseinandersetzen. Dies resultiert oft in frühkindlicher Karies, also multiplen kariösen Defekten bei kleinen Kindern (Abbildung 1). Repräsentative Untersuchungen in Deutschland zeigen, dass circa 14 Prozent der Dreijährigen betroffen sind, und dies im Mittel mit fast vier betroffenen Zähnen. Häufig gibt es eine pulpale Beteiligung, die durch ihre Schmerzen die Lebensqualität, die Nahrungsaufnahme, die weitere Mundhygiene und die Nachtruhe beeinträchtigen kann. Bei einem Fortschritt wären damit eindeutig die Kriterien erfüllt, die der Bundesgerichtshof entsprechend § 1666 BGB als Kindeswohlgefährdung einschätzt: „Wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge erhebliche Schädigung des geistigen oder zm114 Nr. 05, 01.03.2024, (339) KARIESERFAHRUNG 3-JÄHRIGE DEUTSCHLAND 2016 0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 it 0,19 dt 0,36 mt 0,04 ft 0,08 dmft 0,48 idmft 0,68 Mittelwert Deutschland (gewichtet) Milchzähne 3-Jährige dmft 0,48 dt 0,36 mt 0,04 ft 0,08 it 0,19 SiCdmft 1,47 dmft>0 3,57 0,19 0,36 0,34 86,3% dmft = 0 Abb. 2: Frühkindliche Karies zeigt bei 13,7 Prozent aller Dreijährigen in Deutschland mehrheitlich unversorgte kariöse Defekte (73 Prozent dt) und kaum Füllungen (ft) oder Extraktionen (mt) und mit durchschnittlich 3,57 betroffenen Zähnen einen hohen Schweregrad [modifiziert nach Team DAJ, 2016]. Prof. Dr. Christian Splieth Abt. für Präventive Zahnmedizin & Kinderzahnheilkunde Universität Greifswald Fleischmannstr. 42, 17475 Greifswald Foto: Splieth Prof. Dr. Britta Bockholdt Direktorin Institut für Rechtsmedizin Universitätsmedizin Greifswald Kuhstr. 30, 17489 Greifswald Foto: privat ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.
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