50 | TITEL leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist“ [vergleiche den BGH-Beschluss vom 23.11.2016 – XII ZB 149/16]. Da Karies eine progrediente Erkrankung ist, die bestehende Aktivität über Plaque, Gingivitis und aktive (Initialläsionen) eindeutig festgestellt werden kann und die resultierende Pulpabeteiligung die Lebensqualität von Kindern deutlich messbar einschränkt, steht das zahnärztliche Team in der Verantwortung, hier tätig zu werden. Im Englischen wird dies inzwischen meist unter dem Begriff Dental Neglect zusammengefasst. Assoziiert sind häufig eine Überforderung der Betreuungsperson(en), ein niedriger Sozialstatus, Bildungsferne, Migration und eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung. Entsprechende Patienten könnten gerade den Schmerz- oder Notdienst verstärkt in Anspruch nehmen und zwischen verschiedenen Praxen wechseln. Ursachenkomplex von frühkindlicher Karies und Kindeswohlgefährdung/ Kindesmisshandlung, [analog Oeder et al., 2009]: n niedriger Bildungsstatus n junge Elternschaft n Alleinerziehende n Migrationshintergrund n viele Kinder n Persönlichkeitsstörungen n Überforderung n Unerfahrenheit n Hilflosigkeit n wenig Kenntnis von kindlichen Entwicklungsnormen n niedrige Frustrationsgrenze n Reizbarkeit n psychosozialer Stress n Ängstlichkeit n Unglücklichsein n Depression n mangelnde Impulssteuerung und weitere Bei einem frühen, erhöhten Kariesbefall beziehungsweise multiplen, unversorgten Läsionen an den Zähnen und Entzündungen in der Mundhöhle muss das zahnärztliche Team abschätzen, ob dies durch Informationen und Training zügig geändert werden kann und die Eltern eine adäquate Therapie ermöglichen, so dass keine weitere Schädigung eintritt (Abbildung 3). Die Kindeswohlgefährdung wäre damit zunächst abgewendet und neben der zahnärztlichen Behandlung wären keine weiteren Maßnahmen notwendig. Allerdings dürfen keine zusätzlichen, allgemeinen Anzeichen einer Vernachlässigung wie Unterernährung, Entwicklungsrückstände, eine ungenügende Körperhygiene oder inadäquate zm114 Nr. 05, 01.03.2024, (340) Abb. 4: Handlungsschema bei Dental Neglect/Kindeswohlgefährdung gemäß der Kinderschutzleitlinie [2019] Foto: Kinderschutzleitlinie Status erheben Angebote vermitteln Situation erörtern Begleitumstände berücksichtigen Status Mundgesundheit ▪ Alter und Entwicklungsstatus ▪ Zahnstatus ▪ Pflegestatus ▪ Verletzungen im Mundbereich (unfallbedingt oder zugefügt) ▪ Differentialdiagnosen Es gibt keinen Grenzwert für die Anzahl kariöser Zähne oder keine anderen spezifischen Erkrankungen des Mundes, die zwangsläufig zu der Diagnose einer dentalen Vernachlässigung führen. Weitere Faktoren bezogen auf das Kind ▪ Beeinträchtigung durch Karies ▪ Dauer und Ausprägung der Karies ▪ Bereitschaft und Fähigkeit zur zahnärztlichen Behandlung bezogen auf elterliche Kentnisse zur Mundgesundheit ▪ Wann wurden erste Auffälligkeiten bemerkt? ▪ Erfolgte bereits eine Aufklärung/Anleitung zur Mundgesundheit? ▪ Was wurde bisher unternommen? weitere Umstände ▪ Verfügbarkeit zahnärztlicher Versorgung in derVergangenheit ▪ Kinder oder Eltern sorgen und öffnen sich Gespräche mit Kind/Jugendlichen und Eltern (unter Berücksichtigung der Begleitumstände) ▪ Status und mögliche Beeinträchtigungen benennen ▪ Verständnis zur benannten Situation erfragen ▪ Angebote zur Veränderung der Situation erläutern Erörterung im Sinne des §4 KKG Beratung ▪ Betreuung in der Zahnarztpraxis ▪ Anleitung zur effektiven Mundhygiene ▪ Behandlung und Wiedervorstellung ▪ Vermittlung von Hilfsangeboten ▪ Eigene Beratung in Anspruch nehmen Hinweise und Beratungsangebote finden Sie umseitig Wurden Personensorgeberechtigte/Bezugspersonen über die Art und das Außmaß der (kariösen) Erkrankungen Ihres Kindes, den Nutzen einer Behandlung, die spezifischen Behandlungsoptionen und den Zugang zu diesen Behandlungsoptionen zur Abwendung von weiterführenden Schäden informiert und enthalten sie ihren Kindern eine indikationsgerechte zahnärztliche Behandlung und/oder erforderliche Unterstützung bei der Mundhygiene vor, ist dies ein gewichtiger Anhaltspunkt für eine Vernachlässigung. Hierbei ist insbesondere das Alter und der Entwicklungsstatus der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. DENTALE VERNACHLÄSSIGUNG UND VERZAHNUNG IM KINDERSCHUTZ KINDERZAHNHEILKUNDE IN DER PRAXIS Der Beitrag ist an das Kapitel „Kindeswohlgefährdung/- misshandlung“ in der überarbeiteten Neuauflage des Buches „Kinderzahnheilkunde in der Praxis“ angelehnt, das im Frühjahr 2024 erscheint. Das Buch wird im Rahmen des gleichnamigen Symposiums am 9. März 2024 in Greifswald und als Online-Fortbildung vorgestellt.
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