TITEL | 53 dungen erhöht: Von 2012 bis 2022 stiegen sie um rund 24.000 Fälle beziehungsweise 63 Prozent an. Etwa vier von fünf (79 Prozent) aller von einer Kindeswohlgefährdung betroffenen Kinder waren jünger als 14 Jahre, etwa jedes zweite sogar jünger als acht Jahre (47 Prozent). Jungen sind bis zum Alter von elf Jahren etwas häufiger betroffen, Mädchen ab dem zwölften Lebensjahr. In den meisten Fällen von Kindeswohlgefährdung (59 Prozent) hatten die Behörden Anzeichen von Vernachlässigung festgestellt – dazu zählt auch die dentale Vernachlässigung (siehe Seite 48). In über einem Drittel der Fälle (35 Prozent) gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen. In 27 Prozent der Fälle wurden Indizien für körperliche Misshandlungen und in fünf Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt gefunden. Den Jugendämtern zufolge gab es darunter auch Fälle, bei denen die Betroffenen mehrere dieser Gefährdungsarten gleichzeitig erlebt hatten. 2022 traf dies auf 22 Prozent aller Fälle von Kindeswohlgefährdung zu. Polizeilich bekannt geworden sind 2022 in Deutschland 4.376 Opfer von Kindesmisshandlung – davon waren 3.633 mit dem Tatverdächtigen verwandt [Polizeiliche Kriminalstatistik, 2022]. Laut Bundeskriminalamt liegt die Dunkelziffer aber weitaus höher. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Im (zahn-)ärztlichen Bereich könnten Unsicherheiten des medizinischen Personals beim Umgang mit Verdachtsfällen eine Rolle spielen [Kaur et al., 2017]. Aber auch Fehldeutungen von Verletzungen aufgrund falscher Berichterstattung der Sorgeberechtigten sind möglich. Deshalb ist es wichtig, dass Zahnärztinnen und Zahnärzte suspekte Verletzungsmuster erkennen (können) und wissen, wie sie sich im Verdachtsfall verhalten. Sentinel-Verletzungen können hinweisgebend sein Schätzungsweise 50 bis 75 Prozent aller Fälle körperlicher Kindesmisshandlungen gehen mit Traumata im Mundbereich, im Gesicht und/oder am Kopf einher, während bis zu 90 Prozent aller Opfer Hautbefunde (Hämatome, Schnittwunden, (orale) Verletzungen, Verbrennungen) aufweisen [Kaur et al., 2017; Kinderschutzleitlinienbüro, 2019]. Sentinel-Verletzungen können hinweisgebend für Kindesmisshandlung und Prädiktoren für schwerwiegende Verletzungen sein. Dazu zählen vor allem Hämatome, die nicht nur oft übersehen werden, sondern häufig schwereren, beinahe tödlichen bis tödlichen Verletzungen vorausgehen [Pierce et al., 2017]. Zu den misshandlungsverdächtigen Hämatomen gehören geformte Hämatome, Hämatome, die Cluster bilden, und Hämatome, die in Kombination mit Frakturen, Verbrennungen, intrakraniellen Blutungen oder unklaren Verletzungen auftreten, heißt es in der Kinderschutzleitline [2022]. Betont wird auch, dass „Hämatome im Bereich der Ohren, des Halses, der Hände, der Waden und der Genitalien in allen Altersgruppen“ verdächtig sind, sowie beispielsweise JEDES Hämatom bei einem prämobilen Säugling (Abbildung 2). Neben Hämatomen gehören subkonjunktivale Blutungen und intraorale Verletzungen, insbesondere Frenula-Risse, zu den Sentinel-Verletzungen [Spiller, 2023]. Bei intraoralen Verletzungen sollte man stutzig werden Dental negIect gilt als ein Indikator für die Vernachlässigung eines Kindes [Zahnärztekammer Berlin]. Damit können andere Formen der Vernachlässigung wie mangelnde Körperhygiene, ein schlechter Ernährungszustand oder emotionale Vernachlässigung einhergehen. Bei körperlicher Gewalt gegen Kinder können orale Verletzungen vielgestaltig sein. Hellhörig sollten Zahnärztinnen und Zahnärzte insbesondere bei gerissenen Frenula werden. Lippenbändchen können zum Beispiel verletzt werden, wenn Sorgeberechtigte versuchen, ein schreiendes Kind durch Schläge ins Gesicht oder ein Zuhalten des Mundes verstummen zu lassen. Lippen-und Zungenbändchen können auch durch gewaltsames Einführen einer Flasche reißen – häufig einhergehend mit Riss-Quetschwunden an Lippe, Zunge und Mundboden [Spiller, 2023]. zm114 Nr. 05, 01.03.2024, (343) DAS KÖNNEN SIE TUN! In der Kinderschutzleitlinie richtet sich ein Kapitel direkt an Zahnärztinnen und Zahnärzte, denen zwei entscheidende Aufgaben zugeschrieben werden: n „1. Anzeichen von (dentaler) Vernachlässigung und anderen Formen der Misshandlung zu erkennen, wenn Kinder ihre Praxis besuchen, sowie n 2. die Untersuchung der Mundgesundheit von Kindern mit Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und/oder -vernachlässigung im Rahmen des diagnostischen Prozesses (zum Beispiel nach Überweisung durch andere Ärzte) durchzuführen.“ Auffallend ist, dass misshandelte beziehungsweise vernachlässigte Kinder eine deutlich schlechtere Mundgesundheit sowie deutlich mehr unversorgte kariöse Läsionen aufweisen als Kontrollgruppen in ihrem Alter, heißt es in der Leitlinie. Das bedeutet nicht nur, dass eine schlechte Mundgesundheit hinweisgebend für eine Misshandlung sein kann, sondern auch, dass bei bekannten Fällen von Misshandlung unbedingt „routinemäßig eine zahnärztliche Untersuchung als Teil einer Gesamtrehabilitation“ veranlasst werden sollte. In der Leitlinie finden sich mehrere Handlungsempfehlungen für Zahnärztinnen und Zahnärzte. So heißt es dort: „Jede orale Verletzung sollte genau dokumentiert werden. Liegt kein akzidentelles Trauma oder eine zweifelhafte Anamnese vor, sollte dem Verdacht auf eine körperliche Misshandlung als Ursache nachgegangen werden. Ärzte_innen oder/und Zahnärzte_innen sollten bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung die strukturierte medizinische Diagnostik (zum Beispiel laut OPS 1-945) einleiten und nach dem Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vorgehen.“ [Kinderschutzleitlinienbüro, 2019]
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