Zahnaerztliche Mitteilungen Nr. 05

Foto: Alexander Limbach – stock.adobe.com 56 | TITEL INTERVIEW MIT PROF. DR. DRAGANA SEIFERT „Dental neglect ist selten die einzige Form der Vernachlässigung!“ Misshandlung und Vernachlässigung sind nicht immer auf den ersten Blick als solche erkennbar. Prof. Dr. Dragana Seifert erklärt, bei welchen Spuren von Gewalt oder Auffälligkeiten im Verhalten der Kinder und Eltern Zahnärztinnen und Zahnärzte hellhörig werden sollten – und was dann zu tun ist. Frau Prof. Seifert, Sie leiten das ChildhoodHaus Hamburg – Kompetenzzentrum für Kinderschutz! am UKE. Wofür steht das Zentrum und was genau sind dort Ihre Aufgaben als Rechtsmedizinerin? Prof. Dr. Dragana Seifert: Ich habe vor rund 20 Jahren das Kinderkompetenzzentrum in Hamburg gegründet. Dies ist seit dem 6. Dezember 2021 in das Childhood-Haus übergegangen. Wir untersuchen und begutachten Kinder bei Verdacht auf Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexualisierte Gewalt. Wir arbeiten vom ersten Tag an im Team. Das bedeutet, dass immer jeweils eine Ärztin oder ein Arzt aus der Rechtsmedizin und ein Kinderarzt oder eine Kinderärztin zusammen das Kind untersuchen. Kinderschutz kann nur interdisziplinär gelingen und wir müssen das Kind mit allen seinen Bedürfnissen betrachten, nicht nur auf mögliche Verletzungen achten, sondern auch auf den Gesundheitszustand und den Entwicklungsstand. Im Childhood Haus sind zwei weitere essenzielle Professionen dazu gekommen: zwei Psychologinnen sowie zwei Sozialpädagoginnen als Case-Managerinnen. Ist Gewalt gegen Kinder ein Problem, das in manchen sozialen Schichten verbreiteter ist als in anderen? Ich würde es anders formulieren: Gewalt gibt es in allen sozialen Schichten, aber in manchen kann man es besser verbergen als in anderen. Nach Angaben der polizeilichen Kriminalstatistik liegt die Dunkelziffer von Kindesmisshandlungsfällen deutlich im sechsstelligen Bereich. Warum ist die Zahl so hoch? Die Diskrepanz zwischen gemeldeten und tatsächlichen Kindesmisshandlungsfällen ist in der Tat sehr hoch. Leider scheuen sich viele Menschen davor, mögliche Kindesmisshandlungen zu melden, weil sie befürchten, dass die Sorgeberechtigten einen Verdacht haben könnten, wer es gemeldet hat. Viele misshandelte Kinder bleiben für das Hilfesystem „unter dem Radar“, weil sie nicht in die Kita gehen und auch nicht regelmäßig in Kinder- oder Zahnarztpraxen vorgestellt werden. In solchen Fällen werden sie häufig das erste Mal im Rahmen der Vorschuluntersuchung ärztlich begutachtet. Bis dahin erfährt niemand, dass es den Kindern nicht gut geht. Es gibt auch in einigen Stadtteilen Schulen und Kitas, in denen es eine so hohe Zahl von möglicherweise vernachlässigten Kindern gibt, dass bei den dortigen Mitarbeitern eine Überforderung herrscht. Denn zu Kindesmisshandlung zählt nicht nur körperliche und sexualisierte Gewalt. Leider spricht in der Politik kaum jemand über das omnipräsente Problem der Vernachlässigung. Vernachlässigung ist die noch viel häufigere Erscheinungsform der Kindesmisshandlung und die Kinder Prof. Dr. Dragana Seifert ist Fachärztin für Rechtsmedizin und Leiterin des „ChildhoodHaus Hamburg – Kompetenzzentrum für Kinderschutz! am UKE“. Täglich ist sie mit schweren Schicksalen von Kindern konfrontiert, denen Gewalt angetan wurde oder die von ihren Sorgeberechtigten vernachlässigt werden. Foto: privat zm114 Nr. 05, 01.03.2024, (346)

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