58 | TITEL zm114 Nr. 05, 01.03.2024, (348) Welche Verletzungen bei Kindern sehen Sie am häufigsten? Am häufigsten ist eine stumpfe Gewalteinwirkung – entweder durch körperliche Gewalt oder mithilfe eines Gegenstands. Beispiele dafür sind Tritte, Ohrfeigen oder Schläge mit der Hand oder mit Verlängerungskabeln. Gibt es Verletzungen im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich, die besonders oft bei Misshandlungen auftreten? Schleimhautverletzungen oder abgebrochene Zähne zählen zu den häufigsten intraoralen Verletzungen. Darüber hinaus sind Spuren eines Handabdrucks durch Ohrfeigen oder Schläge im Gesichtsbereich nicht selten. Wie kann man Misshandlungsspuren von unfallbedingten Verletzungen abgrenzen? Am besten gelingt das anhand der Prüfung der Plausibilität der elterlichen Schilderung über einen etwaigen Verletzungshergang. Blutunterlaufungen an den Knien oder Schienbeinen machen mir keine Sorgen – diese treten regelmäßig bei Stürzen, beim Spielen oder beim Fahrradfahren auf. Hingegen sind Blutergüsse oder Verletzungen hinter den Ohren, am Hals oder am Gesäß sehr oft besorgniserregend, da sie schon aufgrund ihrer Lokalisation nicht durch Unfälle zu erklären sind. Gibt es Umstände oder Auffälligkeiten im Verhalten der Kinder oder Eltern, bei denen Zahnmediziner besonders hellhörig werden sollten? Folgende Aspekte sind besonders bemerkenswert: Zum einen sollte man besonders aufmerksam sein, wenn deutlich wird, dass Kinder Angst vor den Eltern haben. Zum anderen ist die fehlende Empathie gegenüber dem eigenen Kind ein klares Warnsignal. Damit meine ich nicht, dass alle Eltern, die ihr Kind bei einer zahnärztlichen Untersuchung nicht beruhigen können, keine guten Eltern sind. Aber eine solche „Stresssituation“ gibt einen Eindruck, wie die Familie funktioniert. Ich habe leider nicht selten erlebt, dass Kinder während einer Untersuchung weinen und die Eltern vollkommen unberührt daneben sitzen. Entweder können diese Eltern die Bedürfnisse ihres Kindes nicht erkennen oder sie erkennen sie, aber sie sind ihnen egal. Fehlende Empathie beziehungsweise Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind beunruhigt mich zutiefst und sollte grundsätzlich als Warnsignal verstanden werden. Was würden Sie Zahnärztinnen und Zahnärzten raten, die Verletzungen unklarer Ursache bei der Untersuchung von Kindern feststellen? Sie sollen sich bei einem Verdacht immer an die naheliegende Kinderschutzambulanz wenden. Wir in Hamburg sind 24 Stunden erreichbar, können aus ganz Deutschland angerufen und auch anonym um Rat gefragt werden. Alternativ kann das nächstgelegene rechtsmedizinische Institut kontaktiert werden, um dort fachlich beraten zu werden. Wie häufig stellt sich ein Misshandlungsverdacht als „falscher Alarm“ heraus? „Komplett falscher Alarm“ ist bei uns selten, weil die meisten Kinder über das Jugendamt zu uns kommen und dadurch schon eine Selektion stattgefunden hat. Aber es gibt auch Fälle, in denen ein Verdacht auf Kindesmisshandlung besteht, aber dieser zum Zeitpunkt der rechtsmedizinischen Untersuchung nicht nachgewiesen werden kann. Ich würde schätzen, dass dies etwa ein Viertel aller bei uns untersuchten Fälle betrifft. Gerade wenn etwas Zeit nach physischer Gewalt vergangen ist, ist der Nachweis schwer, weil die Verletzungen oft folgenlos abheilen – die Narben auf der Seele können aber bleiben. Nur wenige Verletzungsarten, zum Beispiel Folgen von thermischer Gewalt nach Einwirkung von Feuer oder heißer Flüssigkeit, hinterlassen langfristig eindeutige Spuren und Narben. Was passiert, wenn Sie bei der Untersuchung eines Kindes im Kompetenzzentrum für Kinderschutz Spuren von Gewalt bei Kindern feststellen? Das ist Auftraggeber-abhängig: Wenn das Jugendamt der Auftraggeber ist, dann wird das Ergebnis der Untersuchung des Kindes auch dem Jugendamt gemeldet. Wenn Kinderärzte die Auftraggeber sind, dann besprechen wir mit ihnen das weitere Prozedere, zum Beispiel, dass wir eine Meldung an das Jugendamt empfehlen würden – die wir dann auch anbieten zu übernehmen. Das Jugendamt sollte eigentlich immer ins Boot geholt werden, denn sie haben das Wächteramt, sie können sich um die Familien kümmern und sicherstellen, dass die Kinder die notwendige Hilfe bekommen. Wir untersuchen und betreuen im Childhood-Haus Hamburg mehr als 1.000 Kinder pro Jahr. Schon seit Jahren haben wir sehr hohe Untersuchungszahlen. Unsere berufliche Schweigepflicht brechen wir nur in Ausnahmefällen, um eine Strafanzeige zu erstatten. Das passiert zum Beispiel dann, wenn wir einen sexuellen Missbrauch einer erwachsenen Person eindeutig nachweisen können, wenn ein Schütteltrauma vorliegt, weil wir wissen, dass dies eine lebensbedrohliche Verletzung ist, oder wenn wir einen Säugling mit multiplen Knochenbrüchen untersuchen müssen. Haben Sie eine abschließende Botschaft an die zahnärztlichen Kolleginnen und Kollegen? Ich würde mir wünschen, dass ein Zahnarzt oder eine Zahnärztin bei Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes oder dessen Eltern, bei suspekten Verletzungen oder Anzeichen von Vernachlässigung genauer hinsieht. Auf dem Zahnarztstuhl ist es leicht, einen kurzen Blick auf das Gesicht, die Hände, den Hals und hinter die Ohren des Kindes zu werfen. Dies sind wertvolle Sekunden, bei denen vieles gesehen werden kann. Wann immer man einen Dental neglect feststellt, sollte man genauer nachsehen, ob es weitere Auffälligkeiten gibt. Wir wissen, dass ein Dental neglect selten die einzige Form der Vernachlässigung oder der Kindesmisshandlung ist. Da es ungewöhnlich wäre, dass „nur“ die Zähne eines Kindes vernachlässigt werden, braucht es immer einen ganzheitlichen Blick auf das Kind sowie die Sorgeberechtigten. Das Gespräch führte Dr. Nikola Lippe. Ich würde mir wünschen, dass ein Zahnarzt oder eine Zahnärztin bei Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes oder dessen Eltern genauer hinsieht.
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