64 | GESELLSCHAFT ZAHNARZT IN FIRST-GENERATION „Die anderen kannten sich besser aus als ich!“ Geschlecht, Nationalität, Alter: In den vergangenen Jahren hat das Thema Vielfalt in der Arbeitswelt an Aufmerksamkeit gewonnen. Aber auch die soziale Herkunft spielt für die berufliche Entwicklung eine Rolle, denn sie prägt – wie eine Studie zeigt – die gesamte Laufbahn. Ein Zahnarzt berichtet von seinen Erfahrungen. Während die Bedeutung von Vielfalt in der Gesellschaft immer stärkere Anerkennung und Unterstützung erfährt, bleibt eine Facette unseres Verständnisses von Diversität, Gleichstellung und Inklusion auch weiterhin nur sehr schwer greifbar: der sozioökonomische Hintergrund“, stellt die Boston Consulting Group (BCG) in ihrer Studie „Das schlummernde Potenzial der ‚First-Generation Professionals‘“ 2023 fest. „First-Generation“ oder FirstGen Professional sind Fachkräfte, die als erste in ihrer Familie studiert haben und als Akademikerinnen und Akademiker ins Berufsleben eingetreten sind. Die Arbeit liefert Hinweise darauf, dass es auch nach einem erfolgreichen Studium und trotz gleicher fachlicher Qualifikation für die spätere berufliche Laufbahn eine Hürde sein kann, statt in einem Akademikerhaushalt beispielsweise in einem Arbeiterhaushalt groß geworden zu sein. Dass Deutschland bei der sozialen Mobilität nur mäßig abschneidet, ist in anderen Zusammenhängen schon stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. So ist bekannt, dass Akademikerkinder mit größerer Wahrscheinlichkeit studieren als Kinder aus schlechteren sozioökonomischen Verhältnissen. Laut Hochschulbildungsreport 2020 erwerben nur etwa halb so viele Nichtakademiker- wie Akademikerkinder eine Hochschulzugangsberechtigung. Bis zum Master steigt die Relation auf knapp 1:6, bis zur Dissertation sogar auf 1:10. Das heißt: Einen Doktortitel schaffen von 100 Akademikerkindern durchschnittlich zehn und von 100 Nichtakademikerkindern eins. Wie es dann im Job weitergeht, ist bisher allerdings wenig erforscht. Keinen akademischen Background zu haben, führt laut der BCG-Studie dazu, dass sich viele Berufstätige ihrem Arbeitsumfeld noch sehr lange Zeit – manchmal gar für immer – nicht 100-prozentig zugehörig fühlen. Insgesamt hätten FirstGens zu 19 Prozent häufiger das Gefühl, am Arbeitsplatz nicht sie selbst sein zu können, heißt es in der Studie. „Das Gefühl, nicht authentisch sein zu können, hat Auswirkungen, die nicht nur dem Einzelnen schaden, sondern auch dem Unternehmen: Unzufriedenheit am Arbeitsplatz und Stagnation bei der persönlichen Entwicklung gehen Hand in Hand mit weitreichenderen Folgen, etwa einer Verschlechterung der Unternehmensperformance.“ „Man kann die Unterschiede nicht benennen, spürt sie im Miteinander aber doch!“ Marcus Poller kommt aus einem nicht akademischen Elternhaus, ist also ein FirstGen. Seine Mutter arbeitete als Erzieherin, sein Vater war selbstständig in der Logistikbranche. Nach seinem Realschulabschluss im Jahr 2003 machte er eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Im Anschluss machte er auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur und studierte ab 2014 Zahnmedizin in Halle. An den Wochenenden jobbte er weiter als Pfleger im Krankenhaus, um sein Studium zu finanzieren. Nach der Assistenzzeit trat er 2022 eine Anstellung in einem zahnärztlich geführten MVZ in Leipzig an. Der heute 37-Jährige kann viele Erfahrungen gut nachvollziehen, von denen die rund 1.125 Fachkräfte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz berichten, die an der anonymen Online-Befragung, die der BCG-Studie zugrunde liegt, teilgenommen haben. Er selbst hat erlebt, dass viele Unterschiede, die aufgrund der sozialen Herkunft im Beruf entstehen, nur schwer greifbar sind. „Man kann sie nicht benennen, aber spürt sie im Miteinander doch. Am besten beschreibt man es vielleicht als eine Art Habitus oder Wissensvorsprung, den Kinder von Akademikerinnen oder Akademikern haben.“ Hier spielt Networking eine wichtige Rolle, schreiben die Autoren der Boston Consulting Group. So hätten FirstGens um 46 Prozent seltener Zugang zu Netzwerken, die ihnen beim Berufseinstieg helfen. „FirstGen-Professionals haben das Gefühl, dass sie im Vergleich zur Akademikergruppe weniger gut über Einstiegspositionen und Karrierepfade informiert sind. Die Komplexität der Karrierewahl und die dabei fehzm114 Nr. 05, 01.03.2024, (354) Die soziale Herkunft beeinflusst auch das Berufsleben, wie Zahnarzt Marcus Poller aus Leipzig bestätigt. Kein Makel: Viele sogenannte FirstGeneration-Professionals legen keine lineare Karriere hin. Das zeugt von Durchhaltevermögen.
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