GESELLSCHAFT | 65 zm114 Nr. 05, 01.03.2024, (355) „Ich hatte das Gefühl, ich muss jetzt ‚richtig ärztlich‘ sein!“ Dr. Christin Gerber, angestellte Fachärztin für Arbeitsmedizin in Bochum, ist Erstakademikerin. Die 35-Jährige weiß aus eigener Erfahrung, welche Herausforderungen das Medizinstudium und der Einstieg in den Beruf für Menschen mit ihrem Hintergrund bereithalten. Um andere beim Start zu unterstützen, engagiert sie sich seit 2009 ehrenamtlich als Mentorin für die Organisation „ArbeiterKind“. Hier erzählt sie, wie es ihr erging und was sie ihren Mentees rät. Dr. Gerber, womit haben Ihre Mentees aus dem Bereich Medizin beim Jobeinstieg zu kämpfen? Dr. Christin Gerber: Aus dem Studium kennen sie einen gewissen finanziellen Druck und akzeptieren daher oft schnell und ohne ausführliche Verhandlungen eine Stelle. Da in den Kliniken unterschiedliche Tarifverträge gelten, nehmen sie an, dass dies so hinzunehmen sei, während andere wissen, dass es möglicherweise Spielraum bei Eingruppierung und Sonderzahlungen gibt. Was haben Chefs und Chefinnen im Zusammenhang mit Bewerberinnen und Bewerbern aus sozioökonomisch ungünstigeren Verhältnissen nicht auf dem Schirm? Auch wenn das Fachliche im Vordergrund stehen sollte, bevorzugt man in der Regel Personen, die einem ähnlich sind. Vorgesetzte müssen sich das bewusst machen und hinterfragen, warum sie wen gut oder weniger gut finden. Vielleicht mag man Bewerberin A vor allem, weil sie einem durch das gleiche Hobby ähnlich ist – ein Hobby, das Bewerber B gar nicht ausüben kann, weil zum Beispiel die finanziellen Einstiegshürden für ihn viel höher sind. Welchen Support hätten Sie sich beim Job-Start gewünscht? Retrospektiv hätte ich jemandem, der mich beim Übergangsprozess von Studentin zu Ärztin begleitet, gut gebrauchen können. Jemand, der mir Tipps gibt worauf, ich bei Arbeitsverträgen achten muss, dass ich sehr wohl das Gehalt verhandeln kann, mich zu Fortbildungen mitnimmt – oder zumindest vorher einweiht, wie das abläuft, und dass dort nichts zu befürchten ist. Wie meinen Sie das? Ich hatte anfangs große Hemmungen zu Fortbildungen zu gehen, da das „Imposter-Syndrom“ sehr tief saß, also, dass ich mich unter Kolleginnen und Kollegen wie eine Hochstaplerin empfand. Zu den ersten Fortbildungen, zu denen ich mich angemeldet hatte, bin ich nicht erschienen. Viele Erstakademikerinnen und -akademiker beschreiben den Job-Einstieg als schwierig, weil sie keine Netzwerke oder Insider-Wissen haben. Erleben Ihre Mentees das ähnlich? Insbesondere im akademischen Umfeld habe ich das auch schon mehrfach gehört. Wie zum Studienbeginn ist man in einer Situation, in der viele Menschen um einen herum bereits Insider-Wissen zu haben scheinen, das man sich selbst erst aneignen muss. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum so wenige Erstakademikerinnen und -akademiker es bis zum Doktortitel oder weiter schaffen, zusätzlich dazu, dass die Wissenschaft mit zeitlichen Befristungen für viele „zu unsicher“ ist. Nach Jahren der Unsicherheit im Studium will man oft einfach nur Geld verdienen und da bleibt dann weniger Raum für wissenschaftliche Ambitionen. Welchen Rat geben Sie Ihren Mentees in dieser Situation? Ich sage ihnen immer, dass es sehr vielen so geht oder ging und dass darüber zu reden enorm erleichternd sein kann. Dazu ermutige ich sie. „First Generation-Professionals“ haben auch oft das Gefühl, im Beruf nicht sie selbst sein zu können. Wie war das für Sie? In meiner ersten Anstellung hatte ich das Gefühl, ich muss jetzt „richtig ärztlich“ sein und habe schon eine innerliche Spannung wahrgenommen. Ich wusste nicht, wie viel ich über mich preisgeben und trotzdem ernst genommen werden konnte. Kann ich erzählen, dass ich mich bei ArbeiterKind.de engagiere? Sind meine Hobbys okay oder werde ich den „Studentinnen-Status“ nie los? Abseits der Unsicherheit: Welche Stärken zeichnen Ihre Mentees gerade aufgrund ihrer Herkunft im Job aus? Wer als Erstes in der Familie erfolgreich studiert hat, hat sich meist viel selbst erarbeiten müssen und dadurch enormes Durchhaltevermögen entwickelt. Selbst wenn die Familie unterstützend ist, kann es sein, dass sie den Inhalt des Studiums nicht nachvollziehen kann. Das schärft die Kommunikationsfähigkeit. Erstakademikerinnen und -akademiker haben auch oft aus eigener Erfahrung die Möglichkeit, sich besonders gut in die Patientinnen und Patienten hineinzuversetzen, die keinen akademischen Background haben. Ich denke, insbesondere im Gesundheitswesen, wo wir mit einer enormen Spannbreite von Menschen zu tun haben, profitieren wir alle, wenn das ärztliche Personal keine homogene Masse ist. Das Gespräch führte Susanne Theisen. Seit 2008 unterstützt die Organisation „ArbeiterKind“ Menschen, die als Erste in ihrer Familie studieren. Mehr Infos: arbeiterkind.de Fotos: Lustre - stock.adobe.com, privat
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