ZAHNMEDIZIN | 41 Not „verwässert“ – statt einen neuen Begriff einzuführen, der sowohl den klassischen „zähnebezogenen“ Bruxismus als auch die beiden neuen Unterkieferbeziehungsweise Kiefermuskelaktivitäten ohne Zahnbezug beinhaltet. Für die Therapie des Bruxismus bleibt die Neudefinition bedeutungslos, da in der Praxis nach wie vor die Aktivitäten mit Zahnkontakt im Vordergrund stehen. Epidemiologie Bruxismus ist keine Erscheinung der Neuzeit [Lange, 2013]. In der Bevölkerung waren und sind die darunter fallenden Parafunktionen weit verbreitet. In einer epidemiologischen Studie aus den Niederlanden berichteten fünf Prozent beziehungsweise 16,5 Prozent der 1.209 erwachsenen Probanden über Wach- oder Schlafbruxismus [Wetselaar et al., 2019]. Da die meisten Menschen nicht wissen, ob sie pressen oder knirschen, ist davon auszugehen, dass der tatsächliche, aber unbekannte Anteil betroffener Patienten deutlich höher liegt. Bei einem geschätzten Prozentsatz von acht Prozent der Erwachsenen mit stark ausgeprägtem, also behandlungsbedürftigem Bruxismus würde die Zahl der therapiebedürftigen Personen allein in Berlin mit rund 3,7 Millionen Einwohnern, davon circa 3,1 Millionen 18 Jahre oder älter, rund 250.000 umfassen. Risikofaktoren für Bruxismus Ein allseits bekannter Risikofaktor für Bruxismus ist emotionaler Stress. So ist es auch nicht erstaunlich, dass die Bruxismus-Prävalenz während der COVID-19-Pandemie stark anstieg [Mirhashemi, 2022]. Allerdings ist Stress weder der einzige noch der stärkste Risikofaktor. Aus diesem Grund ist es empfehlenswert, im Rahmen der Anamnese nach den in den Tabellen 2 und 3 genannten möglichen Krankheiten, Angewohnheiten und Medikamenten zu fragen. Außerdem spielen genetische Einflüsse eine Rolle [Oporto et al., 2018; Campello et al., 2022]. Diagnostik Die Diagnostik besteht aus der Anamnese und der hier wichtigeren klinischen Befundung. Sie wird mit Vorteil durch eine Panoramaschichtaufnahme (Orthopantomogramm) komplettiert. Die typischen anamnestischen, klinischen und bildgebenden Befunde sind in Tabelle 4 zusammengefasst. Je mehr Befunde angetroffen werden, desto eindeutiger ist die diagnostische Einschätzung, so dass die aus den genannten Quellen erhaltenen Indizien in der Regel eine relativ sichere Diagnosestellung erlauben. Anamnese Wenn die anamnestische Frage „Knirschen oder pressen Sie während des Schlafes oder am Tag mit Ihren Zähnen – oder wurde Ihnen gesagt, dass Sie dies tun?“ von einer Patientin oder einem Patienten bejaht wird, ist zu diesem Zeitpunkt der Befundaufnahme sehr wahrscheinlich, dass bei der betroffenen Person Bruxismus vorhanden ist. Wird die Frage – und dies ist der weitaus gängigere Fall – mit „Ich weiß nicht“ beantwortet oder zm114 Nr. 07, 01.04.2024, (539) 1987/1988: Staatsexamen/ Promotion, Albert-LudwigsUniversität Freiburg i. Br. 1994–1997: Visiting Assistant Professor of Dentistry, University of Michigan, Ann Arbor, USA 1999: Habilitation (Universität Freiburg i. Br.) Seit 2001: Oberarzt im (damaligen) Zentrum für Zahnmedizin der Universität Basel 2005: Ernennung zum außerplanmäßigen Professor (Universität Freiburg i. Br.) 2015–2017: Klinikvorsteher ad interim, Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien, Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB) Seit 2018: Leiter der Abteilung Myoarthropathien / Orofazialer Schmerz, Klinik für Oral Health & Medicine, UZB BRUXISMUS ALS RISIKOFAKTOR FÜR GESUNDHEITLICHE BESCHWERDEN UND UNERWÜNSCHTE EREIGNISSE Risikofaktor für… OR 95%-KI Literaturquelle Wachbruxismus Kopfschmerz (einschl. Migräne) 2,3 1,1–4,7 Silva et al. [2022] Wachbruxismus Kopfschmerz vom Spannungstyp 17,3 4,9–61,1 Réus et al. [2021] Wachbruxismus Myoarthropathien 2,5 2,0–3,0 Mortazavi et al. [2021] Schlafbruxismus Myoarthropathien 2,1 1,8–2,3 Mortazavi et al. [2021] Bruxismus Implantatmisserfolg 2,8 1,0–7,7 Chrcanovic et al. [2018] Bruxismus Implantatmisserfolg 4,7 2,7–8,4 Zhou et al. [2016] Tab.1: OR: Odds Ratio (Chancenverhältnis), 95%-KI: 95%iges Konfidenzintervall (= 95%iges Vertrauensintervall) Die Odds Ratio ist ein Assoziationsmaß, bei dem zwei Chancen miteinander verglichen werden. Beispiel: Auf der Grundlage der epidemiologischen Studie von Réus et al. [2021] ist die Chance, dass eine Person mit Wachbruxismus Kopfschmerz vom Spannungstyp hat, ist rund 17-mal größer als bei einer Person ohne Wachbruxismus. Prof. Dr. Jens C. Türp, MSc, M.A. Leiter der Abteilung für Myoarthropathien / Orofazialer Schmerz Klinik für Oral Health & Medicine, Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel, Universität Basel Mattenstrasse 40, CH- 4058 Basel jens.tuerp@unibas.ch Foto: Photo Basilisk AG
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