ZAHNMEDIZIN | 35 Unser Behandlungsangebot richtet sich zum anderen an diejenigen, die sich im Anerkennungsprozess befinden, an einer Essstörung zu leiden. Psychische Erkrankungen und deren multifaktorielle Auswirkungen sind für viele Menschen schwer greifbar. Veränderungen an den eigenen Zähnen – seien sie mit ästhetischen Einbußen oder mit Schmerzen verbunden – sind hingegen deutlich schneller sichtbar und stellen für manche Betroffene eine Art „ersten Zugang“ zu den fatalen Auswirkungen ihrer Essstörung dar. Unsere Hoffnung ist, dass eine zahnärztliche Diagnose und Aufklärung oder sogar Behandlung für die Betroffenen ein Anstoß sein kann, sich der weiterführenden Therapie ihrer Essstörung zu öffnen. Somit können wir hier gegebenenfalls Informationen geben und weitere Ansprechpartner nennen. Sie arbeiten in einem interdisziplinären Team – gehören dazu auch Disziplinen außerhalb der Zahnmedizin? Interdisziplinarität schreiben wir in der Ambulanz „Zahnmedizin bei Essstörungen“ groß, sowohl in zahnärztlichen Bereichen als auch in Bezug auf andere medizinische Fachgebiete. Wir haben schon erwähnt, dass wir mit der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universitätsklinik Frankfurt am Main, mit der Psychotherapeutenkammer Hessen und mit niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten zusammenarbeiten. Eine umfangreiche allgemeinmedizinische Betreuung ist für Patient*innen mit Essstörungen vor allem in Bezug auf ihre Organfunktionen von immenser Bedeutung. Deshalb ist uns die patientenindividuelle Zusammenarbeit mit ärztlichen Kolleg*innen aus der Allgemeinmedizin sehr wichtig. Die tägliche Arbeit mit den Betroffenen lehrt uns, dass eine (zahn-)medizinische Therapie nur unter Betrachtung der „gesamten Person“ Erfolg haben kann und unsere Patient*innen von der Kooperation mit anderen Fachgebieten profitieren. Wie sehen klassische säurebedingte Zahnschäden bei häufigem Erbrechen aus und wie unterscheiden sich diese von anderen Erosionen? Was ist das Besondere an der Behandlung von säurebedingten Zahnschäden? Welche Behandlungsoptionen stehen zur Verfügung? Im Rahmen der klinischen Diagnostik lassen sich nur begrenzt Unterschiede zwischen Emesis-bedingten Erosionen und anderen Formen von erosiven Zahnhartsubstanzdefekten feststellen. Häufig stellt nur die Lokalisation der entstandenen Erosion im Zahnbogen einen Ansatz dar, Rückschlüsse auf mögliche Ursachen der Defekte zu ziehen. Bei Patient*innen mit Essstörungen treten die Defekte meist an den palatinalen und lingualen Zahnoberflächen im Frontzahnbereich durch den Erstkontakt mit der Magensäure in Erscheinung. Auch muldenartige, okklusale Defekte im Seitenzahnbereich sind oftmals erkennbar (Abbildung 2). Im Gegensatz dazu führt die exogene Säureaufnahme in Form von Lebensmitteln, etwa übermäßiger Fruchtsäurekonsum, zu einem sichtbaren Säureangriff an den bukkalen Zahnflächen. Insbesondere bei dieser Patientengruppe ist durch eine obstreiche Ernährungsweise häufig eine Mischform anzutreffen. Zähne, die von Erosionen befallen sind, haben daher durch die abnehmende bis hin zur fehlenden Schmelzschicht ein erhöhtes Kariesrisiko. Die Erstdiagnose einer Essstörung erfolgt dabei nicht von uns Zahnärzt*innen. Wir sehen uns in einer beratenden Rolle, die gegebenenfalls die ersten klinischen Hinweise sieht und unsere Patient*innen dementsprechend aufklärt. Das Behandlungskonzept unserer Ambulanz umfasst eine zweistufige Vorgehensweise: Dem klinischen und radiologischen Basisbefund folgt die spezifische Befundung mithilfe eines speziell für diese Patientengruppe entwickelten Screening-Bogens. Damit werden durch eine Befragung Informationen der Betroffenen in Bezug auf ihre psychosomatische Erkrankung und den Grad der Belastung im Hinblick auf die Mundsituation erfasst. Ebenfalls wird in diesem Zusammenhang beispielsweise der Basic Erosive Wear Index (BEWE-Index) zur Kategorisierung des Erosionensbefalls erhoben. Zur Optimierung der Patientenvisualisierung und aus Dokumentationsgründen erfolgt beim Ersttermin sowie bei allen Recall-Terminen ein Intraoralscan. Auf Basis dessen können in einem ersten Schritt beispielsweise patientenindividuelle Schutz- und Fluoridierungsschienen angefertigt werden. Diese dienen, je nach Indikation, als Säureschutz der Zahnhartsubstanz während des Erbrechens oder der Refluoridierung nach Säureangriffen. Wichtige Bausteine der ersten Behandlungsstufe stellen außerdem ein Aufklärungsgespräch über die Ätiologie der Erosionen sowie ein spezifisches Mundhygienetraining dar. Unsere Empfehlung ist, die Zähne zweimal täglich mit fluoridhaltiger Zahnpasta unter Einbeziehung von individuell angepassten Hilfsmitteln (Zahnseide und Interdentalbürsten) zu reinigen. Auch der Zeitpunkt der Reinigung spielt eine entscheidende Rolle; diese sollte nicht unmittelbar nach dem Erbrechen erfolgen, da der saure pH-Wert in der Mundhöhle durch die Magensäure die Zähne verstärkt angreift. Eine besondere Herausforderung bei der Versorgung essstörungsbedingzm114 Nr. 09, 01.05.2024, (721) Zahnärztin Charlène Bamberg Fotos: Carolinum Frankfurt am Main Zahnärztin Miriam Ruhstorfer
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